Die Befragung. Armin Scholl
Читать онлайн книгу.demnach die rein gedankliche – spekulative oder logisch strenge – Beschäftigung mit einem Forschungsgegenstand ist, erfordert Empirie immer den direkten forschungspraktischen Bezug auf einen außerwissenschaftlichen Forschungsgegenstand.6 Hermeneutische Methoden wären dann insofern empirisch, als sie den Forscher systematisch an einen bestimmten Forschungsgegenstand, etwa ein Gedicht oder ein aufgezeichnetes Gespräch, »koppeln«.
Der Vorteil eines weiten Empiriebegriffes besteht darin, dass er keine Trennung zu nicht-empirischen Verfahren vollziehen muss, was trotz gegenteiliger Bekundungen in der Regel praktisch auf den Ausschluss dieser Verfahren aus dem Lehrkanon des sozialwissenschaftlichen Fachs Kommunikationswissenschaft hinausläuft. Der Nachteil besteht darin, dass die notwendigen Unterscheidungen dann auf Binnendifferenzierungen verlegt werden müssen. Diese werden im nächsten Kapitel mit der ebenfalls gängigen Gegenüberstellung standardisierter und offener Befragungsmethodologie nachgereicht.
[21]Die Befragung hat die (Alltags-)Kommunikation als Grundlage und benutzt diese für die Gewinnung von Informationen über das Forschungsobjekt. Gleichzeitig ist (öffentliche) Kommunikation der Forschungsinhalt der Kommunikationswissenschaft. Daraus ergeben sich besondere Chancen, aber auch Risiken für diese Methode. Die Chancen bestehen darin, dass sie prinzipiell an die alltägliche Kommunikation anknüpfen und in allen Teilen der Bevölkerung eingesetzt werden kann. In westlichen Kulturen ist die (wissenschaftliche) Befragung mittlerweile so weit etabliert, dass sie als Sozialtechnik mit ihren Regeln allgemein bekannt und auch weitgehend akzeptiert ist.
Allerdings ist die (sozial)wissenschaftliche Befragung nicht identisch mit informellen Gesprächsformen und bedarf insofern einer gewissen Transferleistung der alltäglichen Gesprächssituation auf die wissenschaftliche Befragungssituation durch die Forscher (Interviewer) und durch die Befragten. Diese Übertragungen sind einerseits erwünscht, um die Auskunftsbereitschaft der Befragten überhaupt zu sichern; sie sind andererseits riskant, weil bestimmte soziale Normen, wie sie in Gesprächen praktiziert werden, nicht zu gültigen Informationen über den Befragten führen. So ist es in alltäglichen Konversationen üblich, nichts über sich zu kommunizieren, was den Eindruck bei den Gesprächspartnern negativ beeinflussen könnte. Man versucht in der Regel, sich selbst gut darzustellen oder zumindest keinen Anlass zu geben, dass ein schlechter Eindruck entsteht (»impression management«). Abgesehen von offenen Provokationen und witzig-ironischen Gesprächsformen verläuft das Gesprächsverhalten im Rahmen dessen, was sozial erwünscht ist oder dafür gehalten wird.
Bei der Befragung geht es dagegen um valide, authentische Informationen des Befragten über sich selbst, über andere oder über Organisationen, die der Befragte repräsentiert, aber nicht darum, einen möglichst guten Eindruck von sich (oder der eigenen Organisation) beim Interviewer oder bei der Forschungsinstitution zu hinterlassen. Die Befragungssituation ist deshalb vom Prinzip her weitgehend entlastet von den konformitätserzeugenden sozialen Regeln. Weder der Forscher noch der Interviewer haben irgendeine Möglichkeit, das Auskunftsverhalten des Befragten oder die Auskunftsinhalte der Antworten zu sanktionieren, die Befragung beruht auf der Freiwilligkeit der Teilnahme und der Auskunftserteilung. Die einzige Ausnahme von dieser Regel sind (die nicht-wissenschaftlichen) Volkszählungen, bei denen die Auskunft vom Gesetzgeber erzwungen werden kann. Für die (sozial)wissenschaftliche Befragung stehen dagegen nur Appelle und Überzeugungsversuche zur Verfügung, die den Befragten zur Teilnahme an der Befragung und zur ehrlichen Auskunft bewegen sollen.
[22]Das Ziel der (sozial)wissenschaftlichen Befragung besteht zusammengefasst darin, durch regulierte (einseitig regelgeleitete) Kommunikation reliable (zuverlässige, konsistente) und valide (akkurate, gültige) Informationen über den Forschungsgegenstand zu erfahren. Die Befragung ist eine Art Aufforderung zur Selbstbeschreibung des Befragten. Der Forschungsgegenstand, das Selbst dieser Beschreibung, kann, muss nicht identisch mit der Auskunftsperson, dem Befragten, sein; es kann sich auch um einen dem Befragten nahen Forschungsgegenstand handeln, etwa um eine Organisation, für die der Befragte arbeitet bzw. in der er Mitglied ist, oder um eine dem Befragten nahestehende Person; man spricht im letzt genannten Fall von einer »Proxy-Befragung«.
Je nach Stellenwert, der dem Befragten seitens des Forschers eingeräumt wird, variieren die Bezeichnungen: In der angewandten Sozialforschung wird häufig von Zielpersonen gesprochen, die auch diejenigen mit einschließen, die sich dem Interviewversuch entziehen oder die nicht erreichbar sind. In experimentellen Untersuchungen ist die Rede von Versuchspersonen, die eine vergleichsweise passive Rolle einnehmen, während in Lehrbüchern zur Befragung auch die Bezeichnung Untersuchungsteilnehmer gewählt wird, die eine aktivere Rolle des Befragten suggeriert. Die tatsächliche Aktivität des Befragten hängt vom Standardisierungsgrad der Befragung ab: Je offener die Befragung in der Form ist, desto aktiver muss sich der Befragte an der Strukturierung der Befragungssituation beteiligen.
Bei der Durchführung von (sozial)wissenschaftlichen Befragungen wird zwar versucht, an die Alltagssituation von Befragungen (Fragestellen, Information im Gespräch) anzuknüpfen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine künstliche (nicht selbst gesuchte), asymmetrische (einseitig themenbestimmte), distanzierte (nicht persönlich werdende), neutrale (emotional nicht extreme), anonyme (nicht zwischen Bekannten erfolgende) Gesprächsform.
Voraussetzungen für eine gelungene Befragung sind neben der methodischen Kompetenz des Forschers und der Relevanz des Forschungsthemas hauptsächlich das Interesse des Befragten am Befragungsthema, seine inhaltliche und sprachliche Kompetenz, die prinzipielle Akzeptanz von Befragungen und Wissenschaft oder Meinungsforschung und seine spezielle, auf einzelne Fragen bezogene, Kooperationsbereitschaft sowie seine Ehrlichkeit bei der Beantwortung der Fragen.
Die Grenzen der Befragung ergeben sich daraus, dass es sich um eine kommunikative Methode handelt, die streng genommen nur über Kommunikationen Auskunft geben kann. Das bedeutet, dass Bewusstseinselemente (Gedanken, Gefühle) und Verhaltensweisen nur indirekt erschließbar sind und von der Befolgung [23]der oben aufgeführten kommunikativen Regeln abhängt.7 Insofern sind in der Befragung ermittelte Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen stets kommunikativ vermittelt. Man kann diese kommunikative Vermittlung als (potenzielle) Verzerrung der tatsächlichen Bewusstseinsinhalte und Verhaltensweisen auffassen, die man methodisch – etwa experimentell – zu reduzieren versucht, oder als eigenen sozialen Sinnbereich, der im Alltag relevant ist. Im ersten Fall interessieren die Gedanken oder Verhaltensweisen selbst, sodass die Befragung gegebenenfalls durch andere Methoden flankiert werden muss, wohingegen im zweiten Fall deren Kommunikationen der Forschungsgegenstand sind, wofür die Befragung uneingeschränkt geeignet ist (→ Kapitel 7.3.2 zum Thema »soziale Erwünschtheit«).
1.3 | Methodologische Unterscheidungen |
Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden ist, gibt es einerseits verallgemeinerbare Ziele und Eigenschaften der Befragung, andererseits Differenzen, die zumeist methodologischer Herkunft sind. Man kann die sozialwissenschaftlichen Methoden generell in quantitativ-standardisierte und qualitativoffene Verfahren unterteilen. Diese Unterscheidung basiert auf verschiedenen Forschungsphilosophien; sie wird oft in Unterschiedskatalogen herausgestellt.8 Die Nützlichkeit solcher prinzipiellen Unterscheidungen ist fraglich, denn es handelt sich zwar um das jeweilige Selbstverständnis der beiden Forschungsphilosophien, aber die Forschungspraxis sieht in der Regel weniger gegensätzlich aus. Man kann sich aus dieser Perspektive auf drei Dimensionen beschränken, [24]die für die Forschungspraxis speziell der Befragung konstitutiv sind und eine eindeutige Gegenüberstellung erlauben:
Standardisierte Verfahren streben in erster Linie den Vergleich zwischen den Untersuchungsobjekten an. Um die Vergleichbarkeit herzustellen, vereinheitlichen (und »objektivieren«) sie anhand eines ausführlichen Regelwerks
das Instrument, also den Fragebogen, indem die Fragen im Wortlaut und in der Reihenfolge jedem Befragten gleich gestellt und verschiedene Antwortmöglichkeiten dem Befragten zur Auswahl vorgegeben werden;
die Forschungssituation, also die Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Befragten, indem die Interviewer zu einheitlichem Verhalten gegenüber dem Befragten trainiert werden;
die Auswahl der Forschungsgegenstände,