Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Allgemeine Staatslehre
Begriff, Möglichkeit, Fragen im 21. Jahrhundert
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
Vorwort
|V|Moderne Staatlichkeit befindet sich in stetem Wandel, sieht sich fortdauernd vor neue Herausforderungen gestellt. Das gilt auch für den demokratischen Verfassungsstaat, der in den letzten Jahren immer stärker unter (rechtspopulistischen) Druck gerät – die Stichworte Donald Trump, Polen, Ungarn und Brexit mögen an dieser Stelle genügen. Die Allgemeine Staatslehre hat die Aufgabe, diese aktuellen Entwicklungen in ihren ganzheitlichen Versuch, den Staat „in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion zu begreifen“ (Hermann Heller) zu integrieren, ohne ihre historischen Wurzeln zu vernachlässigen. Allgemeine Staatslehre ist dadurch ein dynamisches Lehr- und Forschungsfeld, das Erklärungsangebote für zahlreiche der beschriebenen Entwicklungen geben kann. Wie Martin Kriele treffend betont, ist damit zugleich jede Generation aufgerufen, ihre eigene Allgemeine Staatslehre zu verfassen. Ältere Werke werden dadurch nicht obsolet. Ihre grundlegenden Ergebnisse und Einsichten bleiben relevant – man denke an die bedeutenden Werke von Georg Jellinek, Hermann Heller, Hans Kelsen oder Herbert Krüger. Für die Beschreibung aktueller Problemlagen (Supranationalisierung, Digitalisierung, Populismus, Urbanisierung), ihre systematische Erfassung sowie für die Entwicklung von Lösungsangeboten können sie aber zwangsläufig weniger beitragen.
Vor diesem Hintergrund formuliert die vorliegende Einführung nach einer Verortung und generellen Rechtfertigung zehn Fragen an eine „Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“. Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet – das wäre auch gar nicht möglich. Gleichwohl geben die Antworten einen Überblick nicht nur über den Forschungsstand, sondern zeigen zugleich neue Aspekte auf, denen sich eine moderne Allgemeine Staatslehre meines Erachtens widmen sollte. Sie wollen insofern zum eigenen Weiterdenken und Vertiefen anregen. Das Buch richtet sich damit nicht nur an Studierende der Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die sich einen ersten Eindruck von der Materie verschaffen wollen. Es adressiert vielmehr auch diejenigen, denen es um eine vertiefte Behandlung dieser Thematik geht. Die Fragen (und Antworten) bauen zwar aufeinander auf, müssen aber nicht am Stück und nacheinander gelesen werden. Sie können und sollen auch als Anregung für diejenigen dienen, die nach interessanten Forschungsprojekten suchen. Der Fußnotenapparat ist umfangreich und umfasst nicht nur (deutsche) rechtswissenschaftliche, sondern auch politik-, sozial- und |VI|wirtschaftswissenschaftliche Literatur, um eine angemessene (erste) Vertiefung zu ermöglichen. Das Konzept unterscheidet sich dadurch partiell von anderen Lehrbüchern. Kritik ist damit ebenso erwartbar wie willkommen.
Zu bedanken habe ich mich bei den MitarbeiterInnen des ehemaligen Instituts für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften der Universität Göttingen, namentlich Sarah Ehls, Leoni Fiekas, Sebastian Hapka, Katharina Kriebel, Gregor Laudage, Tabea Nalik, Lara Schmidt und Jakob Schünemann. Sie haben das Manuskript nicht nur (mehrfach) Korrektur gelesen und das Literaturverzeichnis erstellt, sondern zudem wertvolle Hinweise zu seiner Verbesserung vorgetragen. Sarah Ehls hat zudem wesentliche Impulse für das Design des Umschlagsbilds geliefert. Pia Lange hat in unzähligen Gesprächen und mit ihren Anmerkungen und Anregungen zum Gelingen beigetragen. Frau Daniela Taudt vom Verlag Mohr Siebeck hat das Manuskript gemeinsam mit Frau Rebekka Zech und Frau Lisa Laux wie immer hervorragend betreut. Vielen Dank!
Gewidmet ist das Buch meinem viel zu früh verstorbenen akademischen Lehrer Werner Heun. Vor mittlerweile zwanzig Jahren saß ich an der Universität Göttingen erstmals in seiner Vorlesung zur Allgemeinen Staatslehre und war von Anfang an fasziniert – nicht nur vom Thema, sondern insbesondere von den Kenntnissen und der Belesenheit des Dozenten. Dass ich Jahre später ausgerechnet an seinem ehemaligen Schreibtisch ein einführendes Lehrbuch zur Allgemeinen Staatslehre verfassen würde, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.
Göttingen/Osnabrück, im Januar 2020 Alexander Thiele
|1|A. Begriff und Verortung
der Allgemeinen Staatslehre
„Die wichtigste, auf menschlicher Willensorganisation beruhende soziale Erscheinung aber ist der Staat […].“
Georg Jellinek [1]
„[D]ie Basis aller juristischen Betrachtungen ist nach wie vor die rechtsdogmatische Festlegung der Begriffe.“
Hans Peters [2]
Was ist Allgemeine Staatslehre? In welchem Verhältnis steht die Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht, der (vergleichenden)[3] Verfassungslehre, der Staats-, Politik- aber auch der Sozial- und Wirtschaftswissenschaft? Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert in Zeiten voranschreitender Globalisierung und einem (vermeintlichen) Untergang des modernen Staates noch zeitgemäß? Ist sie im ausgefächerten Wissenschaftssystem noch möglich? Und wenn ja: Wie könnte ein angepasstes und auf aktuelle Entwicklungen reagierendes Lehr- und Forschungsprogramm aussehen, das versucht, Tradition und Gegenwart der Disziplin miteinander zu versöhnen?
Die Antwort auf diese Fragen fällt schwerer als man angesichts der langen, in das 19. Jahrhundert zurückreichenden[4] und vornehmlich deutschsprachigen[5] Tradition der Allgemeinen Staatslehre vermuten würde.[6] Eine |2|allgemeingültige Definition fehlt, man wird sogar sagen können, dass die Beschreibung ihres Gegenstandes den ersten Streitpunkt unter denjenigen darstellt, die sich der Allgemeinen Staatslehre verschrieben haben. Es besteht dadurch eine erhebliche Unsicherheit, wenn man zu bestimmen versucht, womit sich die Allgemeine Staatslehre beschäftigt oder womit sie sich beschäftigen sollte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass (klassische) Lehrbücher auf diesem Gebiet nicht nur eine individuelle Begrifflichkeit zugrunde legen, sondern zugleich individuelle Schwerpunkte setzen und damit ihren eigenen (wissenschaftlichen) Weg gehen. In der Konsequenz unterscheiden sich die Lehrbücher signifikant in Inhalt, Aufbau und Konzeption. Anders ausgedrückt: Allgemeine Staatslehre ist nicht gleich Allgemeine Staatslehre. Der Großteil der Lehrbücher – und das gilt gleichermaßen für ältere wie für neuere Werke – verzichtet auf eine knappe und einprägsame Definition und wählt stattdessen den Weg der beschreibenden Erläuterung, in der weniger dargelegt wird, was Allgemeine Staatslehre generell ist oder sein sollte als vielmehr, was der jeweilige Verfasser darunter versteht.[7] Für die Vorlesungen, die an den unterschiedlichen Fakultäten gehalten werden, gilt nichts anderes, zumal diese bisweilen mit der Verfassungsgeschichte und anderen Grundlagenfächern kombiniert werden und schon dadurch divergierende Schwerpunkte setzen. Zum juristischen Pflichtstoff zählt die Allgemeine Staatslehre ohnehin – wenn überhaupt – nur als Bestandteil der Grundlagenfächer.[8] Was Studierende erwarten können, die diese Vorlesung besuchen, erfahren sie daher erst zu Beginn des Semesters und variiert in Abhängigkeit von den DozentInnen. Hier zeigt sich bereits ein Unterschied zu den Kerngebieten des öffentlichen Rechts. Inhalt und Aufbau der gängigen Lehrbücher weisen dort eine große Ähnlichkeit auf, was daran liegt, dass eine prinzipielle Einigkeit über den behandelten Gegenstand und auch über die Art der Darstellung besteht. Das gilt für den Bereich des Staatsrechts (insbesondere für die Grundrechts-Lehrbücher), ebenso aber für das Verwaltungsrecht.[9] Deutlich wird dies auch in den Prüfungsordnungen der Landesjustizprüfungsämter, die in diesen Bereichen vergleichsweise kongruent ausfallen.
|3|Diese unterschiedlichen Lehrverständnisse spiegeln die wissenschaftliche Welt der Allgemeinen Staatslehre. Ein konsentiertes Forschungsprogramm fehlt,[10] was allerdings