Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Bei der Denationalisierung handelt es sich freilich um eine in die Zukunft gerichtete Forderung, vgl. A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 285ff. Siehe auch unten bei Frage X.
Siehe dazu auch A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 31ff. Zentrale Elemente des demokratischen Verfassungsstaates finden sich bei A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 235ff.
Vgl. auch P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 28f.
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.
Siehe auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 117.
N. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 14. Siehe auch C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9: „Das bedeutet, dass sich auf die Frage, was eigentlich damit gemeint ist, wenn das Wort ‚Staat‘ verwendet wird, keine Antwort von selbst versteht.“
Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 4ff.
Aus der Perspektive der Bankenregulierung A. Busch, Staat und Globalisierung, 2003.
Siehe A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 44ff.
R.M. MacIver, The Modern State, S. 3.
E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 32ff., 37.
Dass es angesichts dieser Vielfalt an (historischen) Staatsbegriffen nicht zwingend erforderlich ist, stets eine völlig neue Definition anzubieten, versteht sich von selbst.
II. Die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre Wissenschaft
Die Allgemeine Staatslehre ist zweitens eine interdisziplinäre Wissenschaft.[41] Dieser Umstand wurde bereits erwähnt und ergibt sich daraus, dass es der Allgemeinen Staatslehre um eine umfassende Beschreibung des Staates (der Staatlichkeit), des „gesamten politisch-administrativen Systems“[42] geht. Eine solche – anspruchsvolle[43] – Aufgabe verlangt, die Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuführen.[44] Andernfalls muss die Erfassung des Staates in seiner Gesamtheit scheitern: „Staatslehre ist heute interdisziplinär oder sie ist überhaupt nicht.“[45] Oder, in den Worten von Christoph Möllers: |8|„Die Allgemeine Staatslehre ist eine eigene Disziplin zur Zusammenführung anderer Disziplinen.“[46] Zu betonen ist freilich: In dieser Zusammenführung erschöpft sie sich nicht. Ohnehin ist auch eine solche Zusammenführung eine wissenschaftliche Leistung, die zu Ergebnissen führen kann, die über diejenigen der Einzelwissenschaften hinausgehen.[47] Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Allerdings ist mit dieser Feststellung der Interdisziplinarität noch nicht beantwortet, welche Wissenschaftsdisziplinen bei der Allgemeinen Staatslehre zusammenkommen (sollen) und mit welcher Methode, in welchem Umfang und mit welchem wissenschaftlichen Ziel eine solche Zusammenführung durchzuführen wäre. In der Forschungswelt besteht hier erneut keine Einigkeit, teilweise wird bestritten, dass die angestrebte Vereinigung zu einer „neuen wissenschaftlichen Form“[48] überhaupt gelingen kann. Das Ob und das Wie der methodenpluralistischen[49] Integration der verschiedenen Teilwissenschaften sind jedenfalls zu einem gewissen Umfang der Willkür und damit den persönlichen Vorlieben und Kenntnissen des Verfassers überlassen – ein weiterer Grund, warum sich die Lehrbücher so deutlich voneinander unterscheiden. Wer sich neben der Rechtswissenschaft auch in der Ökonomie zu Hause fühlt, wird wirtschaftswissenschaftliche Aspekte stärker integrieren[50] als jemand, der vor allem an soziologischen Fragestellungen interessiert ist. Oftmals dürfte auch der Zufall eine Rolle spielen: Schon angesichts des Umfangs der Abhandlungen, die in dem erforderlichen Näheverhältnis zum modernen Staat stehen, werden aus unbekannteren Disziplinen diejenigen herangezogen, über die man – etwa weil sie in einer Tageszeitung erwähnt wurden – schlicht gestolpert ist. Das ist wissenschaftstheoretisch unbefriedigend, in der Sache aber kaum zu ändern, wenn man an der Allgemeinen Staatslehre festhalten will.[51] Allgemeine Staatslehre ist ebenso interdisziplinär wie experimentell und individuell.[52]
Immerhin wird man zwei Dinge festhalten können, die in dieser Hinsicht allgemein anerkannt sein dürften. Da es der Allgemeinen Staatslehre um die |9|Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse des Staates (also der staatlichen Wirklichkeit) geht,[53] kann und muss sie sich zum einen bei den Sozialwissenschaften bedienen. Dazu gehören mit Hans Herbert von Arnim die Soziologie, die Politikwissenschaft aber auch die Volkswirtschaftslehre, die Finanzwissenschaft und die Politische Ökonomie.[54] Hinzu treten die politische Philosophie[55] und die Geschichtswissenschaft, ohne die eine Beschreibung und Analyse des Status quo der heutigen (modernen) Staatenwelt und möglicher Transformationen letztlich nicht möglich ist[56] – trotz der polemischen und eher einer persönlichen Abneigung geschuldeten Bedenken, die Egon Friedell gegenüber der Geschichtswissenschaft geäußert hat.[57] Zum anderen umfasst die Allgemeine Staatslehre auch die normwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche Perspektive; sie ist auch normative Wissenschaft. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Allgemeine Staatslehre dadurch zum Aliud der Staatswissenschaften wird (denen es gerade an dieser Perspektive mangelt) oder – wofür Roman Herzog plädiert hat – sie als Unterdisziplin der umfassend zu verstehenden Staatswissenschaften[58] anzusehen ist.[59] Entscheidend ist, dass eine Untersuchung des modernen Staates ohne diese normative Perspektive keine Allgemeine Staatslehre im hier verstandenen Sinne sein kann. Die Allgemeine Staatslehre strebt vielmehr gerade an, die im Positivismus (für den der ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Verfassungsstaat im Zentrum stand)[60] begründete Aufspaltung in eine soziale Staatslehre einerseits und eine normative Staatsrechtslehre andererseits rückgängig zu machen und beide Seiten der „staatlichen Medaille“ wieder zusammenzuführen – so wie dies in der Hochphase der Allgemeinen Staatslehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts beinahe selbstverständlich der Fall war.[61] Angesichts dieser |10|doppelten Ausrichtung erscheint es aber losgelöst von vermeintlichen „Fachegoismen“ wenig überzeugend, eine Umbenennung der Allgemeinen Staatslehre in „Politikwissenschaft“[62] zu einer zweitrangigen Frage zu erklären.[63] Begrifflichkeiten sind zur Abgrenzung und Systematisierung der Wissenschaftszweige ebenso wie zur Vermeidung von Verständnisproblemen innerhalb des Wissenschaftsraumes nicht beliebig und austauschbar – auch wenn zuzugeben ist, dass diese bisweilen historischen Zufälligkeiten geschuldet sind und es allein auf das materielle Verständnis und die behandelten Fragestellungen ankommen kann. Gerade der Begriff der Politikwissenschaft dürfte sich aber so etabliert und ausdifferenziert haben, dass seine Gleichsetzung mit der (sozial-normativen) Allgemeinen Staatslehre auf Seiten aller Beteiligten eher für Verwirrung,