Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.Kenntnisse der deutschen Demokratie und des Grundgesetzes. Schließlich und fünftens weist der demokratische Verfassungsstaat in den letzten Jahren gewisse Krisensymptome auf,[84] die sich im Erstarken rechtspopulistischer[85] beziehungsweise autoritärer Strömungen (Donald Trump, AfD, FPÖ etc.),[86] in einer problematischen Streitkultur sowie in einer tendenziell sinkenden Wahlbeteiligung widerspiegeln.[87] „Die liberale Demokratie des Westens ist in der Defensive“, stellte Heinrich August Winkler in seiner umfassenden Analyse aus dem Jahre 2017 fest.[88] Die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten markierte lediglich den vorläufigen Höhepunkt dieser Krise,[89] die mittlerweile von zahlreichen AutorInnen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beschrieben worden ist.[90] |16|Sie hat, in den Worten Manfred G. Schmidts, dazu geführt, dass die europäischen Demokratien – man denke an Ungarn, Polen, aber auch Tschechien und Rumänien – zwar „nicht todkrank, aber auch nicht kerngesund, sondern angeschlagen“ sind.[91] Die vergleichende Analyse demokratischer Verfassungsstaaten verspricht Antworten auf die Frage, inwieweit diese Krisensymptome auf ähnliche oder sogar identische Ursachen zurückzuführen sind, wo Unterschiede bestehen – Philip Manow hat zuletzt auf die Bedeutung der politischen Ökonomie hingewiesen[92] – und wie mögliche Lösungsansätze allgemeiner und besonderer Art aussehen könnten. Die Fokussierung auf demokratische Verfassungsstaaten bedeutet ohnehin nicht, dass nicht auch andere Staaten in die Betrachtung einbezogen werden müssten. Eine solche Einbeziehung erfolgt dann allerdings zur Veranschaulichung der Unterschiede und damit punktuell und unsystematisch, mithin zur deutlicheren Herausarbeitung des spezifischen Charakters des demokratischen Verfassungsstaates. Sie kann aber gerade dort, wo eine materielle Demokratisierung aktuell mehr oder weniger gescheitert ist (Russland, Türkei, Ukraine, Afghanistan, Libyen) auch helfen, die aktuell zu beobachtenden Krisensymptome zu verstehen und besser einzuordnen.
Darüber hinaus muss sich eine Allgemeine Staatslehre auf eine Untersuchung des bestehenden Staatensystems beschränken. Die Allgemeinheit auch in historischer Perspektive einlösen zu wollen und damit zugleich eine umfassende Evolutionsgeschichte des modernen Staates zu verfassen, ist angesichts der Vielfalt der historischen Staaten und staatsähnlichen Herrschaftsstrukturen nicht möglich, muss daher anderen überlassen bleiben.[93] Durch die Erkenntnisse der politischen Anthropologie ist die Zahl politischer Systeme, die in einer solchen Geschichte zu behandeln wären, noch einmal erheblich angestiegen. Diese hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargelegt, dass Formen von Politik und damit auch Formen von Staatlichkeit und Herrschaft keineswegs erst mit den Hochkulturen, sondern bereits in den frühen segmentären und tribalistischen Gesellschaften im Anschluss an die neolithische Revolution zu finden sind.[94] Diese Gesellschaften waren stets auch von politischem und sozialem Wandel geprägt[95] und haben eine |17|politische Geschichte, die zu erzählen ebenso wichtig erscheint, wie sie von einer Allgemeinen Staatslehre nicht geleistet werden kann. Martin Kriele hat also Recht, wenn er festhält, dass jede Generation ihre eigene Allgemeine Staatslehre entwickeln muss.[96] Das ist demnach nicht nur aufgrund sich verändernder politischer Herausforderungen und erkenntnistheoretischer Modelle der Fall, sondern auch, weil jede Generation eine veränderte Staatenwelt vorfindet, die einer eigenständigen Beschreibung und normativ-kritischen Einordnung bedarf. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste Lehrbücher nicht selten ihren Schwerpunkt beim demokratischen Verfassungsstaat setzen, hängt insofern auch damit zusammen, dass sich dieser (erst) seitdem weltweit verbreitet hat. Damit steht zugleich fest: Keine Allgemeine Staatslehre kann zeitlose Geltung beanspruchen. Dazu hängen ihre Ergebnisse zu sehr an den sich verändernden empirischen Begebenheiten. Hier liegt der Grund, warum Hermann Heller auf den Zusatz „Allgemeine“ von vornherein verzichtete: „Dass also eine zeiträumlich ‚allgemeine‘ Staatslehre nicht erstrebt, weil garnicht für möglich gehalten wird, soll schon im Titel dieser Arbeit zum Ausdruck gelangen.“[97] Entscheidend ist, dass man sich dieser eingeschränkten Bedeutung des Begriffs „Allgemeine“ bewusst ist, dass es also um eine Allgemeinheit im Jetzt und nicht um eine Allgemeinheit in der Zeit geht. Dann spricht nichts gegen dessen Verwendung (zumal sich diese Begrifflichkeit auch durchgesetzt zu haben scheint). Das bedeutet im Übrigen nicht, dass eine Allgemeine Staatslehre auf historische Betrachtungen jedweder Art verzichten müsste oder sollte. Sie werden allerdings nur dort erfolgen, wo es darum geht, typische Entwicklungen (etwa die Entstehung und Ausbreitung des modernen Staates, den „normalen“ Ablauf von Revolutionen oder den Untergang von Staaten) durch historisch belegte Prozesse zu verdeutlichen, kurz: wo es „zum Verständnis der Gegenwart nötig ist.“[98]
Mit dieser zweiten Einschränkung hängt die letzte zusammen. Der universelle Anspruch der Allgemeinen Staatslehre sollte nicht überinterpretiert werden. Wer mit dem Ziel antritt, das Wesen des Staates zu ermitteln oder eine Theorie des Staates an sich[99] zu entwickeln, wird in einem gewissen Übereifer möglicherweise dazu neigen, bestehende Differenzen und Unterschiede zum Wohle der eigenen allgemeinen Theorie zu überspielen. Er oder sie zwängt die reale Staatenwelt dadurch in ein Prokrustesbett und verfehlt das Ziel einer empirisch zutreffenden Beschreibung des Status quo, die den Ausgangspunkt der Allgemeinen Staatslehre bilden muss. Ähnlich hält Christoph Möllers fest: „Die Rede vom ‚Staat‘ als solchem hat von vornherein Unterschiede im Namen eines vermeintlichen Idealtyps unterschlagen.“[100] Es gilt |18|sich eine gewisse Offenheit für die Mannigfaltigkeit der heutigen Staatenwelt zu bewahren, die sich über Jahrhunderte nicht systematisch, sondern immer auch aufgrund historischer, kultureller und sozialer Zufälligkeiten und Pfadabhängigkeiten entwickelt hat. Voreilige Schlussfolgerungen können so vermieden werden. Auch die hier im Fokus stehenden demokratischen Verfassungsstaaten weisen eine Vielzahl an Gemeinsamkeiten, aber eben auch an Unterschieden auf,[101] die nicht zu Gunsten einer möglichst einheitlichen Staatsidee allzu grobschlächtig übergangen werden dürfen. Demokratie ist nicht gleich Demokratie. Erneut sei R.M. MacIver zitiert: „Practically all modern states are, in terms of the definition already given, democracies, but no two are quite alike in character.“[102]
Fußnoten
Ähnlich auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 10. Siehe auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 2. Eine solche „Besondere Staatslehre“ findet sich etwa bei H.H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984. Ähnlich auch W. Heun, Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 2012 sowie U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013. Siehe zu dieser Unterscheidung auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 35ff.
Siehe K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, S. 259: „Der einzige Weg, der den Sozialwissenschaften offensteht, besteht darin, (…) die praktischen Probleme unserer Zeit mit Hilfe der theoretischen Methoden zu behandeln, die im Grunde allen Wissenschaften gemeinsam sind: mit Hilfe der Methode von Versuch und Irrtum, der Methode des Auffindens von Hypothesen, die sich praktisch überprüfen lassen, und mit Hilfe ihrer praktischen Überprüfung.“ Vgl. dazu auch J. Nasher, Die Staatstheorie Karl Poppers, S. 48ff.
Vgl. auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 35f.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9f.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 22: „Eine zweite Begrenzung unserer Aufgabe liegt darin, dass sie im wesentlichen nur die Erscheinungen der heutigen abendländischen Staatenwelt und deren Vergangenheit insoweit, als es zum Verständnis der Gegenwart nötig ist, als Forschungsobjekt betrachtet.“