Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.auf dem afrikanischen Kontinent) sind auch für den Experten kaum noch zu überblicken. Der Staat ist nicht statisch, sondern „Prozess“.[22] Eine solche rein beschreibende und ordnende Allgemeine Staatslehre verlöre aber ihren Charakter als kritische Wissenschaft, schrumpfte zur „positivistischen Begleitwissenschaft“ und wäre in einer solchermaßen faden und blutleeren Form nicht in der Lage, Impulse für die Entwicklung der Staaten zu liefern und Fehlentwicklungen zu thematisieren. Eine solche Allgemeine Staatslehre könnte mit jeder Ausprägung von Staatlichkeit leben – der Staat und die Staatenwelt wären wie sie sind: Der Hobbes’sche Leviathan mal mehr und mal weniger gebändigt, mal gewalttätig, mal schwach bis zur Bedeutungslosigkeit. Für eine neutrale Allgemeine Staatslehre stellten sich daran anknüpfende Fragen nicht. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die Erosion des demokratischen Verfassungsstaates,[23] ja sogar die Entstehung neuartiger autoritärer Staatsformen wäre für sie lediglich Anlass zur Anpassung der gefundenen Ergebnisse aber niemals Ausgangspunkt für Kritik oder (lautstarke) Empörung. Eine solche Allgemeine Staatslehre aber kann es nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht (mehr) geben:[24] „Staatslehre muss auch kritisch sein“.[25] Ähnlich formuliert Herbert Krüger: „Eine Staatslehre lässt sich gewiss nicht ohne inneres Beteiligtsein schreiben, um von dem Sinn für Staatlichkeit und ihre Würde ganz zu schweigen.“[26] Wo Menschen gefoltert, |6|Meinungen unterdrückt, Journalisten inhaftiert, Medien behindert und Oppositionelle gegängelt werden, darf eine moderne Allgemeine Staatslehre nicht in unparteiischer Lethargie, Langeweile und Beliebigkeit verharren. Auch die Auswirkungen des vorherrschenden Wirtschaftssystems auf den sozialen Zusammenhalt wird sie nicht unkommentiert lassen können. Allgemeine Staatslehre ist nicht wertneutral, ohne dass dazu Übereinstimmung in der Ausgestaltung des normativen Referenzmodells bestehen müsste, an dem die reale Staatenwelt gespiegelt wird. Es ist aber Aufgabe einer jeden Allgemeinen Staatslehre ein Referenzmodell anzubieten und zur Diskussion zu stellen.[27] Nach hier vertretener Ansicht kommt allein der (denationalisierte)[28] demokratische Verfassungsstaat als Referenzmodell in diesem Sinne in Betracht.[29] Nur dieser geht von der gleichen (politischen) Freiheit aller sowie der unveräußerlichen Menschenwürde jedes Individuums unabhängig von Rasse, Geschlecht, politischer Anschauung oder sexueller Orientierung aus.[30] Seine Struktur, Ausgestaltung und Charakteristika sollten daher auch im Forschungsprogramm der Allgemeinen Staatslehre im Zentrum stehen. Beide Ebenen – also die tatsächliche und die normative Ebene – gilt es freilich in der Darstellung durchgehend und deutlich erkennbar voneinander zu scheiden: „Stets sollte also klar sein, ob eine Aussage die tatsächlichen Gegebenheiten beschreibt oder sie kritisch bewertet und eine bessere Alternative vorschlägt, kurz, ob man von dem spricht, was ist, oder von dem, was sein soll.“[31]
Die Einigkeit im Hinblick auf ihren zentralen wissenschaftlichen Gegenstand – den Staat – darf nicht mit einer wissenschaftlichen Einigkeit hinsichtlich des zugrunde liegenden Staatsbegriffs verwechselt werden. Angesichts „der Mannigfaltigkeit, die der Staat darbietet“[32] ist dieser Befund nicht überraschend – „der Staat“ kann nicht nur auf unterschiedliche Weise betrachtet, sondern auch auf unterschiedliche Art definiert werden:[33] „Man kann sehr Verschiedenes als ‚Staat‘ bezeichnen.“[34] Tatsächlich bildet die Frage nach |7|dem Wesen des modernen (neuzeitlichen) Staates und den diesen prägenden Merkmalen einen zentralen Diskussionspunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung innerhalb der Allgemeinen Staatslehre.[35] Sie bleibt ein zentraler Forschungsbereich und dürfte es angesichts des steten Wandels von Staatlichkeit und neuartiger Herausforderungen („Globalisierung“) dauerhaft bleiben.[36] Auch die unten (und zuvor bereits an anderer Stelle)[37] präsentierten historischen Wesensmerkmale, die den modernen Staat der Neuzeit prägen und von vorherigen staatlichen (oder staatsähnlichen) Gemeinwesen unterscheiden, sind nur eine Momentaufnahme. „It may seem curious that so great and obvious a fact as the state should be the object of quite conflicting definitions, yet such is certainly the case.“[38] Auch insoweit ist es dem Verfasser überlassen, sich „seinen modernen Staat zu schaffen“ oder (in den Worten Egon Friedells) gerade im Hinblick auf die staatliche Entwicklungsgeschichte seine „Legende“ über den modernen Staat zu erzählen[39] und in den Diskurs einzupflegen – stets in kritischer Auseinandersetzung mit den dazu in Vergangenheit und Gegenwart vorzufindenden Vorschlägen, Ansätzen und Ideen.[40]
Fußnoten
B. Schöbener/M. Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 1, Rn. 1.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9.
R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16.
H.H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1.
H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Vorwort, S. V.
H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3.
H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3. Ein solchermaßen statischer Staatsbegriff liegt freilich auch den Staatslehren Krügers und von Arnims nicht zugrunde.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.
H.H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2.
Vgl. auch K. Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 23; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 121.
G.F. Schuppert, Staat als Prozess, 2010.
Siehe dazu zuletzt etwa S. Levitsky/D. Ziblatt, How Democracies Die, 2018, Y. Mounk, The People vs. Democracy, 2018 sowie A. Thiele, Verlustdemokratie, 2. Auflage 2018.
Vgl. auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 34: „Die Staatslehre zumindest darf sich eines Schweigens gegenüber der Gegenwart nicht schuldig machen.“
H.H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2. Siehe auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 4.
H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. IX.
Siehe auch