Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.zielt ihrer Idee nach darauf ab, Wesen und Charakter aller bestehenden Staaten zu ergründen. Sie wird sich daher der induktiven Methode bedienen und versuchen, vom Besonderen der individuellen Staaten auf das Allgemeine aller Staaten zu schließen. Der empirische „Staatenvergleich“ bildet ein zentrales Element einer jeden Allgemeinen Staatslehre. Das schließt eine deduktive Vorgehensweise nicht von vornherein aus. So ließen sich eventuell aus dem allgemeinen Wesen des Menschen abstrakte Hypothesen über das Zusammenleben im Staat entwickeln, die dann jeder staatlichen Gemeinschaft gemein sind oder sein müssten. Auch dieser Weg – den nicht zuletzt Karl Popper mit seiner Stückwerk-Sozialtechnik gewiss eingeschlagen oder bevorzugt hätte[68] – käme aber ohne den umfassenden Staatenvergleich zur anschließenden Verifizierung (beziehungsweise Falsifizierung) der Hypothesen nicht aus. Im Übrigen ist es bisher allenfalls rudimentär gelungen, aus dem Wesen des Menschen sinnvolle Annahmen zu formulieren, die sich als Grundlage einer umfassenden und halbwegs realitätsnahen (nicht-utopischen) Allgemeinen Staatslehre eignen würden.[69] Auch hier wird daher die induktive Methode als „Grundsatzmethode“ vorgeschlagen, die, das sei noch einmal betont, nicht ausschließt (sondern sogar verlangt), den empirisch ermittelten Befund einer normativen Kritik zu unterziehen.
|12|Der theoretisch-universelle Anspruch der Allgemeinen Staatslehre bedarf in mehrfacher Hinsicht einer Einschränkung und Modifikation. Angesichts der Vielzahl an Staaten – die Vereinten Nationen haben gegenwärtig 193 ordentliche Mitglieder – ist es zunächst unmöglich, eine umfassende Allgemeine Staatslehre zu verfassen, die sämtliche bestehenden modernen Staaten mit der gleichen wissenschaftlichen Tiefe durchdringen und analysieren könnte. Schon die Sprachbarriere ist hier nicht zu überwinden. Entsprechende Versuche hat es zwar durchaus gegeben, auch Georg Jellinek ist seine Maßstäbe setzende Allgemeine Staatslehre mit diesem Anspruch angegangen.[70] Er hat diesen aber schon wenige Seiten später wieder zurückgenommen, jedenfalls aber eingeschränkt.[71] Trotz ihres beeindruckenden Umfangs und ihrer analytischen Kraft handelt es sich in ihrem Kern „doch lediglich (um) eine Theorie des europäischen Staatstypus“,[72] die nicht zuletzt asiatischen, aber auch afrikanischen Erscheinungsformen von Staatlichkeit praktisch keinen Raum bietet. In der Regel beschränken sich die Verfasser einer Allgemeinen Staatslehre auch ausdrücklich auf die Beschreibung einer bestimmten Staatengruppe, die aus ihrer Sicht einen besonderen Erkenntnisgewinn verspricht. Herbert Krüger konzentriert sich in seinem monumentalen Werk auf den „modernen Staat“, Roman Herzog grenzt ein wenig weiter ein und behandelt den „modernen Staat demokratischer Prägung“[73], während sich Hermann Heller ausdrücklich auf den „Staat, wie er sich seit der Renaissance im abendländischen Kulturkreis ausgebildet hat“, fokussiert (womit letztlich wie bei Herbert Krüger der moderne Staat gemeint sein dürfte).[74] Einer solchermaßen auf eine Gruppe von Staaten begrenzten Staatslehre ihre Allgemeinheit absprechen zu wollen, überzeugt nicht.[75] Man wird aber verlangen müssen, dass die Gruppe der ausgewählten Staaten eine signifikante Zahl an Staaten umfasst. Notwendig erscheint zudem eine Erläuterung, worin diese (subjektive) Auswahl gründet, was also das Erkenntnisinteresse gerade an dieser Staatengruppe rechtfertigt.
|13|Nach hier vertretener Ansicht erscheint – ähnlich wie bei Martin Kriele[76]– eine Fokussierung auf den demokratischen Verfassungsstaat sinnvoll.[77] Betrachtet werden sollten vornehmlich solche modernen Staaten, die sich ihrer Verfassungsordnung nach diesem Staatstypus zuordnen lassen. Der Rückgriff auf die Verfassungsordnung allein erscheint allerdings noch als zu weitgehend, da der in der Verfassung verankerte Anspruch, Demokratie zu sein, seit dem Zweiten Weltkrieg (und noch einmal verschärft seit Ende des Kalten Krieges) von einer großen Zahl an Staaten zwar behauptet, in der staatlichen Wirklichkeit aber viel seltener eingelöst wird. Die „Demokratische Volksrepublik Korea“ (Nordkorea) ist trotz ihrer Bezeichnung ebensowenig eine materielle Demokratie wie die Demokratische Republik Kongo oder wie es die „Deutsche Demokratische Republik“ (DDR) jemals war. Eine sinnvolle Abgrenzung und Reduzierung der zu behandelnden Staaten ergibt sich damit nur, wenn man außer dem normativ-formalen noch ein faktisches Kriterium berücksichtigt und verlangt, dass der normative „Demokratieanspruch“ zwar nicht umfassend, aber doch größtenteils verwirklicht wird. Diese Auswahl setzt damit eine normative Vorstellung von den Anforderungen voraus, die ein moderner Staat erfüllen muss, um als (materiell) demokratisch in diesem Sinne angesehen werden zu können. Streng genommen kann diese erste Auswahl daher nur als vorläufig angesehen werden – ob sie sich bestätigt, zeigt sich erst nach Entwicklung des umfassenden demokratischen Referenzmodells. Welche modernen Staaten man neben den wenigen zweifelsfrei demokratischen Verfassungsstaaten[78] noch in die nähere Betrachtung einbezieht, ist dadurch zu einem gewissen Teil eine (willkürliche) Wertungsfrage – ein Umstand, der angesichts der grundlegenden Übereinstimmung in der Frage der relevanten Kriterien aber nicht sonderlich dramatisch erscheint:[79] Die Allgemeine Staatslehre fängt im 21. Jahrhundert nicht bei null an. Ohnehin besteht die Möglichkeit, die eigene Auswahl zu einem späteren Zeitpunkt zu modifizieren.
Neben dem Großteil der europäischen Staaten – eine Ausnahme bilden die Türkei, Russland, Weißrussland und einige weitere ehemalige Sowjetrepubliken[80] – gehören unter anderem die USA, Kanada, aber auch zahlreiche südamerikanische Staaten wie Argentinien, Chile, Peru, Kolumbien, Uruguay oder (noch) Brasilien zu dieser Staatengruppe. Auf dem afrikanischen |14|Kontinent sind es Südafrika, Botswana, Namibia, partiell auch Kenia und nun vielleicht auch Äthiopien sowie (seit dem arabischen Frühling) Tunesien. In Asien wird man Indien, Südkorea, Japan und Taiwan sowie Israel nennen können.[81] Hinzu kommen Australien und Neuseeland.
Diese Entscheidung für eine Fokussierung auf den demokratischen Verfassungsstaat beruht auf folgenden fünf Erwägungen: Erstens findet sich mit den demokratischen Verfassungsstaaten eine prinzipiell anerkannte Gruppe moderner Staaten, an die eine Begrenzung anknüpfen kann. Die zu analysierende Staatengruppe muss also nicht (zumindest nicht in Gänze) theoretisch konstruiert werden, sondern findet sich in der „faktischen Staatenwelt“. Das entlastet aus wissenschaftlicher Sicht erheblich und wird zudem dem Anspruch der Allgemeinen Staatslehre gerecht, auch Seinswissenschaft zu sein. Zweitens erscheint diese Staatengruppe einerseits ausreichend homogen, um eine ausführliche Analyse mit den begrenzten Kapazitäten zu ermöglichen, während die modernen Staaten dieser Gruppe andererseits doch solche Unterschiede aufweisen, die auf fruchtbare Ergebnisse der Systematisierung und des (wertenden) Vergleichs hoffen lassen. R.M. MacIver hat das treffend formuliert: „Practically all modern States are, in terms of the definition already given, to be classed as democracies, but not all are quite alike in character.“[82] Schon die unterschiedlichen Regierungssysteme – vom Präsidialsystem über das parlamentarische und das semi-präsidentielle Regierungssystem bis zum Direktorialsystem bieten reichlich Analyse-, Vergleichs- und normatives Bewertungspotenzial. Drittens scheint dieser Staatentyp mittlerweile derjenige zu sein, dem der Großteil der bestehenden Staaten nach Außen und Innen entsprechen will: „Es gibt nach wie vor eine internationale und auch innenpolitische Prämie auf den Status, als Demokratie zu gelten: International bringt es Prestige wie auch handfeste wirtschaftliche Vorteile; im Inneren kann man den unterlegenen politischen Gegnern immer vorhalten, sie seien eben schlicht nicht populär und müssten sich dem erklärten Mehrheitswillen beugen.“[83] Dann aber scheint es nicht nur zweckmäßig, sondern notwendig, herauszuarbeiten, was diesen attraktiven Staatentyp im Einzelnen prägt. Nur dann kann fundiert dargelegt werden, dass und warum einige Staaten ihrem selbst gesteckten Anspruch nicht genügen. Erst die Entwicklung dieses normativen Referenzmodells macht es etwa möglich zu begründen, dass die türkische Verfassung nach der von Recep Tayyip Erdogan eingeleiteten Reform und entgegen den eigenen Behauptungen den Anforderungen an ein demokratisches Präsidialsystem im US-amerikanischen Sinne nicht genügt. Für die Europäische Union kommt hinzu: Beitreten können |15|dieser nur demokratische (europäische) Staaten, so dass man wissen muss, was solche Staaten ausmacht. Viertens erscheint es sinnvoll eine Staatengruppe zu wählen, zu der auch die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz gehören. Das ist deshalb ratsam, weil es sich bei der Allgemeinen Staatslehre um eine vornehmlich deutschsprachige Disziplin handelt – bereits eine englische Übersetzung des Begriffs „Staatslehre“ bereitet Schwierigkeiten, ist vielleicht gar unmöglich. Eine Allgemeine Staatslehre, die nicht auch diese deutschsprachigen Staaten in den Blick nähme, wäre zwar