Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.R.M. MacIver, The Modern State, S. 351. Siehe auch C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 116: „Nur die Suche nach Unterschieden gestattet aber den Vergleich, der dann wiederum zur Entdeckung von Ähnlichkeiten führen kann – und erst ein Vergleich kann wirklich theoriefähiges Material bereitstellen.“
IV. Ein Definitionsvorschlag
Versuchte man dieser beschreibenden Erläuterung eine knappe Arbeitsdefinition des Forschungsgebietes Allgemeine Staatslehre anzufügen, so könnte diese unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen folgendermaßen lauten:
Bei der Allgemeinen Staatslehre handelt es sich um eine anspruchsvolle, interdisziplinäre Seins- und Sollenswissenschaft, die deskriptiv-analytische, normative und kritische Elemente zur möglichst erschöpfenden Erfassung des Staates – insbesondere seines Handelns, seiner Steuerungsfähigkeit, seiner Steuerungstechniken, seiner Leistungsfähigkeit aber auch seiner Leistungsgrenzen und denkbarer Alternativmodelle – miteinander verknüpft. Ihr Erkenntnisinteresse reicht über einen bestimmten Staat hinaus, sie zielt ihrer Idee nach darauf ab, Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede sämtlicher bestehenden Staaten in diesem Sinne zu ergründen. Dieser universelle Anspruch führt angesichts der Vielfalt an modernen Staaten sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die tatsächlich untersuchten Staaten zu einer notwendigen Beschränkung auf den demokratischen Verfassungsstaat, die letztlich nur begrenzt vorgegeben ist und von den Vorlieben des jeweiligen Akteurs abhängt.
|19|B. Zur Möglichkeit einer Allgemeinen Staatslehre
im 21. Jahrhundert
„Für das Staatsrecht bedeutet das: Nachfragen bei Nachbardisziplinen sind erforderlich, sie verdichten sich aber kaum zu einer neuen wissenschaftlichen Form, der Staatslehre, die den Staat als Ganzes erfassen kann.“
Christoph Möllers [103]
„Staatstheorie sollte nicht so sehr als konturenscharfe Subdisziplin angelegt werden, sie muss eher netzwerkartig institutionalisiert werden, als Unternehmen mit ausgefransten Rändern.“
Thomas Vesting [104]
Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß? Ist sie überhaupt möglich? In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die diese Fragen vorsichtig, bisweilen auch sehr deutlich verneinen. Wer sich daran macht, eine weitere (neue) Allgemeine Staatslehre vorzulegen oder in diesem Gebiet zu forschen, wird sich dieser Kritik stellen und darlegen müssen, warum er sie für nicht überzeugend hält (oder jedenfalls für nicht überzeugend genug, um sie oder ihn von dem Vorhaben abzuhalten). Die Kritikpunkte setzen an allen beschriebenen Merkmalen einer Allgemeinen Staatslehre an: Bei ihrem Gegenstand (I), der Interdisziplinarität und (fehlenden) Methode (II) sowie ihrem universellen Anspruch (III).
Fußnoten
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 39.
I. Verliert die Allgemeine Staatslehre ihren Gegenstand?
Der erste Einwand betrifft den Untersuchungsgegenstand: Den modernen Staat der Neuzeit. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Internationalisierung, Supranationalisierung[105] und Individualisierung im Zeitalter der |20|Postmoderne[106] handele es sich bei diesem um ein Auslaufmodell.[107] Zur Lösung globalisierungsbedingter Problemlagen – zu nennen wären beispielhaft Klimaschutz, Migration, aber auch Fragen der internationalen ökonomischen Ordnung[108] – sei der moderne Staat nicht mehr in der Lage, weil die erforderliche Kongruenzbedingung nicht mehr erfüllt sei: Der zu regelnde Handlungsraum gehe über den demokratisch regelbaren (politischen) Raum hinaus.[109] Der moderne Staat habe damit die ihn bisher prägende Souveränität[110] verloren,[111] auch weil die Organisationsmacht gesellschaftlicher Herrschaftsverbünde (nicht zuletzt multinationale Großunternehmen) diese nicht mehr zulasse,[112] kurz: Der moderne Staat befinde sich „in Auflösung“.[113]Zygmunt Bauman behauptete schon im Jahr 1992, dass sich analytische Modelle der Postmoderne und im Zeitalter der „Globalität“[114] nicht mehr am Staat ausrichten ließen.[115] Dieser sei als Analyserahmen nicht mehr ausreichend zur angemessenen Beschreibung der entscheidenden Faktoren des vielfältigen, interaktiven und dynamischen postmodernen sozialen Lebens.[116] Ähnlich hat zuletzt Udo Di Fabio argumentiert, und dafür plädiert, „politische Herrschaft wieder staatsfrei zu denken“.[117] Erste Verfallserscheinungen diagnostizierten |21|zuvor bereits Carl Schmitt und Ernst Forsthoff (was allerdings vornehmlich mit ihrem Staatsverständnis zusammenhing). Wird man heute damit von einer „poststaatlichen“ Ära sprechen müssen? Wird der moderne Staat zu einem Akteur unter vielen? Und wird dem Projekt einer Allgemeinen Staatslehre dadurch die Legitimation entzogen, da deren Perspektive als zu eng angesehen werden muss?[118] Ist moderne Staatlichkeit, ist der Staat am Ende?
Die besseren Gründe sprechen dafür, diese Fragen zu verneinen.[119] Die beobachteten Auflösungserscheinungen dürften vielmehr (auch zeitbedingt) in ihrer Bedeutung überzeichnet und mit einem tatsächlich nicht eingetretenen Souveränitätsverlust verwechselt worden sein. Mit anderen Worten: Der (souveräne) moderne Staat lebt und es gibt wenige Anzeichen dafür, dass sich das in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten ändern würde.[120] Eine stets auf die Gegenwart bezogene Allgemeine Staatslehre verliert deshalb nicht ihre Berechtigung.
Zur Zurückweisung der Auflösungsthese reicht es nicht aus, allein auf die entgegenstehende Alltagserfahrung[121] und die große Zahl an Staaten zu verweisen, die Mitglied der Vereinten Nationen sind – eine Zahl, die in den nächsten Jahren eher steigen denn fallen dürfte, wenn man vereinzelte Sezessionsbestrebungen (Katalonien, Baskenland, Schottland, Kurdenbewegung, Québec) berücksichtigt. Zwar wird man daraus auf eine fortbestehende Attraktivität des bisherigen Modells „Staat“ schließen können; das Ziel der Sezessionsbemühungen ist stets die Errichtung eines neuen Staates in Form eines modernen Staatswesens. Jedoch behauptete die Auflösungsthese nie ernsthaft, dass Staatlichkeit schon in naher Zukunft gänzlich aufhören würde. Es ging ihr nie um eine formelle, sondern stets um eine materielle Auf- beziehungsweise Ablösung des modernen Staates durch schleichenden Aufgaben- und Steuerungsverlust und zunehmende globalisierungsbedingte Komplexität: „Als heutige Symptome der schleichenden Krankheit des Staates zum Tode werden die Globalisierung und Europäisierung (hier), die Regionalisierung oder Transnationalisierung (anderswo), im Innern die noch |22|schwieriger zu fassenden Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und De-Institutionalisierung diagnostiziert.“[122]
Solche Verlusterscheinungen und damit einhergehende „Enthierarchisierungstendenzen“[123] wird man der Sache nach nicht leugnen können. Ein einfaches „Durchregieren“ des modernen Staates ist in vielen Bereichen, vor allem aber im Wettbewerb der internationalen Wirtschaftsordnung kaum noch möglich. Der Staat ist eingebettet in ein vielschichtiges, verzweigtes und im Detail auch undurchsichtiges Herrschaftsgefüge aus formellen und informellen Institutionen und Akteuren.[124] Entscheidungen, die in manch informellem Gremium getroffen werden, haben nicht selten größere Auswirkungen auf den Einzelnen als im parlamentarischen Raum in transparenter Form verabschiedete formelle Gesetze (man denke an die vielfältigen informellen Gremien der internationalen Wirtschaftsordnung wie den Basler Ausschuss für Bankenaufsicht).[125] Gerade den modernen Staat, der seit jeher „Steuerstaat“ ist, stellt es zudem vor enorme Herausforderungen, wenn Unternehmen ihre Steuerlast durch Konzernverlagerungen ins Ausland oder durch komplexe Steuersparmodelle (mehr oder weniger legal) zu reduzieren vermögen.[126] Es zeigt sich, dass die seit dem Ende des Kalten Krieges weltweit propagierte Liberalisierung und Deregulierung[127] mit einem