Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele

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Allgemeine Staatslehre - Alexander Thiele


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Wahlen, hängt von Zufälligkeiten oder den Vorstellungen eventueller Siegermächte ab. Teilweise greift die verfassungsgebende Versammlung auch auf Vorarbeiten von Verfassungskommissionen (Herrenchiemseer Konvent, Verfassungskommission der Paulskirchenversammlung) oder gar Einzelpersönlichkeiten zurück (Weimar: Hugo Preuß), wodurch sich die Legitimationsfrage noch einmal verschärft. Insofern findet sich im Rückblick kaum eine Verfassungsordnung, die im Hinblick auf ihre Entstehung nicht gewisse Legitimationsdefizite aufweist,[394] schon weil der politische Körper und damit auch die Zugehörigkeit zu diesem erst mit der zu vereinbarenden Verfassung begründet werden.[395] Die Verabschiedung der neuen Ordnung durch eine solche „undemokratische“ Versammlung wird für sich daher kaum die Legitimität erzeugen können, derer es für ihre Stabilität bedarf. Ihren eigentlichen „Legitimationsschub“ erhalten Verfassungen daher auf zweierlei Weise: Einerseits indem der Verfassungstext dem Volk zur Zustimmung vorgelegt wird. So verhielt es sich etwa mit der Verfassung der fünften Französischen Republik, die nach ihrer Ausarbeitung durch die Regierung unter Beteiligung eines aus Parlamentariern besetzten beratenden Verfassungsausschusses in einem Plebiszit vom Französischen Volk angenommen wurde. Etwas anders, im Hinblick auf die Legitimation allerdings kaum weniger, vielleicht sogar stärker ausgeprägt, erfolgte die Annahme der ausgearbeiteten Verfassung in den USA (1787) und in der Schweiz (1848) durch Plebiszite in den Einzelstaaten. Ein geringeres Legitimationsniveau wies die Ratifizierung des Grundgesetzentwurfs in den einzelnen Landtagen der Bundesländer auf – eine Volksbefragung wurde weder in den Ländern noch auf |76|Bundesebene durchgeführt.[396] Aufgefangen wurde dieses Legitimationsdefizit durch den zweiten Legitimationsstrang moderner Verfassungen: Zeit.[397] Die politische Ordnung gewinnt mit jedem Tag, an dem sie von der Bevölkerung als auch vom politischen Betrieb als neue Grundordnung des Gemeinwesens anerkannt und geachtet wird an zusätzlicher Legitimation: „Die erfolgreiche Revolution aber streift irgendwann den Makel ihrer Herkunft ab und erwächst in Legitimität.“[398] Eine besondere legitimatorische Bedeutung kommt hier dem ersten friedlichen Regierungswechsel zu, der sich in Deutschland etwa im Jahr 1969 vollzog. Spätestens mit dieser gelungenen Übergabe der Macht von der Regierung an die bisherige Opposition wird man von legitimatorischen Defiziten mit Blick auf die Bundesrepublik nicht mehr sprechen können[399] – im Jahr 2020 gilt das erst Recht. Legitimitätsschwankungen, ablesbar etwa in sinkenden Wahlbeteiligungen, sind dadurch nicht ausgeschlossen, da die Legitimation immer nur einen notwendigen aber nicht hinreichenden Faktor für die Legitimität einer demokratischen Ordnung darstellt.[400] Voraussetzungen und dogmatische Einordnung der Verfassungsgebung bleiben gleichwohl umstritten.[401]

      Noch nicht gelöst ist damit ohnehin das zweite allgemeine Legitimationsproblem von Verfassungen, das in der Bindung kommender Generationen liegt. Wie lässt es sich rechtfertigen, dass sich eine frühere Generation über den Erlass einer Verfassung anmaßt, auch über die politische Grundordnung kommender Generationen zu entscheiden? Von einer Selbstbindung kann schwerlich gesprochen werden, wenn die aktuelle Generation an der ursprünglichen Ausgestaltung der Ordnung in keiner Weise beteiligt war: „Der Zeitfaktor macht aus Selbstbindung Fremdbindung, aus Autonomie Heteronomie.“[402] Tatsächlich wurde aus diesen Überlegungen – nicht zuletzt von Thomas Jefferson[403] – teilweise der Schluss gezogen, dass eine |77|Verfassungsordnung stets nur für eine Generation Geltung beanspruchen könne. Jede Verfassung müsse mit einem obligatorischen Verfallsdatum versehen werden, um jeder Generation die Möglichkeit zu geben, selbst über die für sie geltenden Spielregeln des politischen Betriebs zu entscheiden. Die Verfassungstheorie entwickelte hingegen eine andere Lösung des Generationenproblems, die den Spagat zwischen notwendiger Stabilität und generationengerechter Flexibilität sachgerecht auflöste: Die Möglichkeit der Verfassungsänderung.[404] Die moderne Verfassungstheorie kennt dadurch neben der verfassungsgebenden und der gesetzgebenden mit der verfassungsändernden noch eine dritte besondere Legislativgewalt, deren Existenz von der Verfassung anerkannt und ausgeformt wird. Damit ist eine Änderung der Spielregeln jederzeit möglich, ohne die Verfassung als Ganzes ablösen zu müssen. Die konkreten Änderungsverfahren müssen allerdings einen gewissen Abstand zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren aufweisen.[405] Ist der Abstand sehr groß – wie in den USA – kann die Verfassungsänderung einer formalen Verfassungsablösung nahe kommen. Ist der Abstand gering, wie in Deutschland, werden Verfassungsänderungen hingegen zu einer alltäglichen politischen Option.[406] Das Grundgesetz ist im internationalen Vergleich daher schon häufig geändert worden. Für die Allgemeine Staatslehre ist die Analyse dieser Änderungsverfahren und ihrer Auswirkungen auf die Stabilität einer politischen Ordnung von Interesse. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Rechtfertigung qualifizierter Mehrheiten für das Änderungsverfahren – das ein Vetorecht der Minderheit begründet – bis heute unter einem legitimatorischen Defizit leidet, praktisch in allen Verfassungsordnungen aber zur Anwendung kommt. Wie Diego Pardo-Alvarez gezeigt hat,[407] lässt sich die notwendige Distanz zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren auch auf eine Weise herstellen, die diese Defizite vermeidet.[408] Anders als zu erwarten, wird diese Diskussion aber weder in der Verfassungstheorie noch in der Allgemeinen Staatslehre ernsthaft geführt.

      |78|3. Untergang von Staaten beziehungsweise „Failed States“

      Bei der Darstellung derivativer Staatsentstehung sind Fälle genannt worden, in denen Staaten untergehen.[409] Dort allerdings trat umgehend ein neuer Staat an die Stelle des bisherigen. Davon zu unterscheiden sind die Zeiträume, in denen ein Staat aus sich heraus nicht mehr alle völkerrechtlichen Staatlichkeitsmerkmale erfüllt, allerdings noch kein neuer Staat an dessen Stelle getreten ist. In einer solchen Situation von Untergang zu sprechen erweist sich als unpräzise, da es nicht ausgeschlossen ist, dass die staatsprägenden Merkmale zurückerlangt werden, die Staatlichkeit wieder auflebt. In den überwiegenden Fällen ist es die Staatsgewalt, mithin die territoriale Hoheit über das bisherige Staatsgebiet, die sich für einen gewissen Zeitraum, oftmals infolge eines Bürgerkriegs, auf verschiedene Akteure verteilt oder gänzlich entfällt (sogenannter „failed state“).[410] Die Einordnung entsprechender Fälle und die Frage, wie dort (wieder) entstehende Staaten im Hinblick auf den völkerrechtlichen Kontinuitätsgrundsatz[411] einzuordnen sind, obliegt dem Völkerrecht.[412] Gleiches gilt im Hinblick auf „schlafende Staaten“, als die die baltischen Staaten vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion angesehen wurden.[413] Für die Allgemeine Staatslehre sind die Muster von Interesse, die zu einem solchen Verfall führen und wie es gelingen kann, auf dem Territorium eine erneute stabile politische Ordnung zu errichten. Aktuell stellt sich diese Frage etwa im Südsudan, in Libyen, in Somalia, der Zentralafrikanischen Republik, dem Jemen oder dem Libanon. In Syrien scheint sich das Assad-Regime nach Jahren des Bürgerkriegs wieder stabilisiert zu haben.

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