Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.Ordnung selbst, weil die Bedürfnisse und Vorstellungen der aktuellen Generation nicht hinreichend berücksichtigt werden – gerade in Systemen wie den USA, in denen eine formelle Verfassungsänderung auf kaum zu überwindende prozessuale Hürden trifft.[361] Den richtigen Weg zwischen Verstarrung und interpretatorischer Beliebigkeit zu betreten ist für den dauerhaften Bestand eines politischen Systems und einer Verfassungsordnung essentiell. Diesen Weg zu weisen und dem stillen Verfassungswandel Grenzen zu setzen, bildet eine konstante Aufgabe der Verfassungstheorie,[362] der juristischen Methodenlehre[363] aber auch der Allgemeinen Staatslehre, die sich zumindest auch als normative Wissenschaft versteht. Sie kann zudem Beispiele aufzeigen, in denen dieses Spannungsverhältnis in schonender Weise aufgelöst worden ist. Die Aktualität dieser Fragen zeigt sich in Deutschland an der Diskussion um den Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG,[364] zuvor bereits bei der Auslegung des Art. 68 GG (Vertrauensfrage und Stellung des Bundespräsidenten),[365] in den USA bei der |68|Interpretation des 2. Zusatzartikels (dem Recht, Waffen zu tragen)[366] und in Großbritannien im Hinblick auf die Reichweite der „Royal Prerogative“ und der beim Monarchen verbliebenen Letztzuständigkeiten.[367]
b) Reformen von „Oben“
Reformen durch die politischen Herrschaftsträger können dazu beitragen eine politisch unruhige Situation, eine Unzufriedenheit in der Gesellschaft und damit aufkommende Legitimitätsdefizite zu beheben und den Fortbestand des politischen Systems zu sichern. Im Gegensatz zum stillen Verfassungswandel läuft dieser Prozess aktiv gesteuert ab. Beispiele sind die Preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts[368] oder die Einführung der Sozialversicherungen Ende des 19. Jahrhunderts durch Bismarck. Hintergrund solcher Reformen können eine Eigeninitiative der herrschenden Eliten (so in Preußen), eine Konzession an Protestierende (wie in Südafrika) oder die Mobilisierung bestimmter neuer Bevölkerungsgruppen sein. Um erfolgreich zu sein, müssen diese Reformen rechtzeitig die konkreten Legitimitätsdefizite angehen und beheben. Dazu kann die Einräumung eines Streikrechts ausreichen, möglicherweise sind aber umfangreichere Reformen auch der Grundstrukturen des politischen Systems erforderlich. Entscheidend ist, dass durch die Reformen die faktische Anerkennung der konkreten Herrschaftsordnung als im Wesentlichen sozial gerecht wieder erreicht wird. Patentrezepte lassen sich auch durch die Allgemeine Staatslehre nicht angeben. Fest steht aber: Kommen die worin auch immer begründeten Reformschritte zu spät oder gehen diese – wie etwa in Frankreich unter Ludwig XVI. – nicht weit genug, droht der Übergang in eine revolutionäre Phase. Ähnlich erging es der DDR-Führung im Jahr 1989: Die angekündigten weitreichenden Reformen Anfang November 1989 konnten die „friedliche Revolution“ nicht mehr aufhalten. Ob die chilenische Führung ausreichende Sozialreformen einleiten wird, um die Ende 2019 begonnenen Unruhen beenden zu können, bleibt abzuwarten.
c) Revolutionen
Revolutionen – der Begriff stammt aus der Astronomie[369] – hat es in der Staatsgeschichte immer wieder gegeben.[370] Als klassisch gelten die |69|Revolutionen in England (1642–60 und die Glorious Revolution 1688), die Französischen Revolutionen (1789,[371] 1830, 1848) und die Russische Revolution (1917). Zu erwähnen sind aber auch die Chinesischen Revolutionen (nationale Revolution 1911–1927 sowie die kommunistische Revolution 1927–1949), die Kubanische Revolution (1953–1959) die Iranische Revolution (1979) sowie die Sawr-Revolution in Afghanistan (1978). In Deutschland sind die Paulskirchen-Revolution (1848/1849), die Novemberrevolution (1918/1919) sowie die „friedliche Revolution“ (1989) zu nennen. Ob es sich beim Abfall der britischen Kolonien und der anschließenden Gründung der USA ebenfalls um eine Revolution gehandelt hat, ist umstritten und hängt vom gewählten Begriffsverständnis ab, entspricht allerdings der gemeinen Bezeichnung dieser Vorgänge, deren zeitlicher Beginn meist mit dem Siebenjährigen Krieg[372] verknüpft wird[373] („Amerikanische Revolution“).[374] Nicht zuletzt einige Marxisten bestritten den Revolutionscharakter, da es sich lediglich um den Austausch einer imperialen durch eine konservativ-koloniale Elite gehandelt habe[375] – ein Elitenaustausch also ohne gesellschaftlichen Wandel, was sich schon am Fortbestand der Sklaverei gezeigt habe. Andere hingegen mieden den Begriff gerade deshalb, um soziale Spannungen innerhalb der späteren USA zu vertuschen, die im Vorfeld der Unabhängigkeit bestanden. Der Unabhängigkeitskrieg war danach keine inneramerikanische Revolution, sondern Ausdruck eines nachgerade übermenschlichen Kraftakts einer vollständig geeinten Nation.[376] Tatsächlich ging es aber, wie Carl. L. Becker später feststellte, keineswegs nur um die „home rule“, sondern selbstverständlich auch darum „who should rule at home“.[377] Und auch wenn die neue Ordnung konservativer war als sich das mancher Marxist gewünscht hätte, fanden sich mit der Idee der repräsentativen Demokratie und Gewaltenteilung sowie der Konstruktion des Bundesstaates selbstverständlich |70|„revolutionäre“ und die Gesellschaft verändernde Elemente, die die Staatenwelt maßgeblich prägen sollten. An diesem Beispiel zeigt sich daher vor allem die Abhängigkeit des Revolutionsbegriffs und der Einordnung bestimmter Ereignisse von den vorherrschenden Zeitauffassungen und Interessen, also vom politischen Kontext.[378] Gerade im Moment einer solchen Transformation ist die Verwendung des Begriffs „Revolution“ nur selten Ergebnis einer sachlich-objektiven Einordnung als vielmehr politische Kampfansage bestimmter gesellschaftlicher Schichten, die von anderen bewusst gemieden wird – nicht alles, was als Revolution bezeichnet wird, ist eine Revolution.
Versucht man sich unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten an einer ersten allgemeingültigen Definition des Begriffs wird man formulieren können: Eine Revolution ist der von einem Veränderungswillen getragene Umsturz herrschender Eliten durch eine neue Elite, durch den nach der Machtübernahme die bestehende Herrschafts- und Sozialstruktur fundamental verändert wird. Ein solcher Umsturz impliziert gewalttätige Vorgänge, die man auch regelmäßig vorfinden wird. Allerdings ist Gewaltgebrauch kein notwendiger Bestandteil einer Revolution. Es gibt Beispiele friedlicher Revolutionen (Umsturz in der ehemaligen DDR 1989/1990). Allerdings werden sich auch dort meist punktuelle Gewalttätigkeiten finden – nicht zuletzt der Zusammenbruch des Ostblocks verlief nicht umfassend friedlich. Entscheidend ist dennoch weniger der Gewaltgebrauch als die Illegalität der Vorgänge nach der bestehenden Verfassungsordnung. Mit der fundamentalen Veränderung der Herrschafts- und Sozialstruktur, die weder völlig neuartig noch progressiv sein muss, unterscheidet sich die Revolution auch von einem Staatsstreich, der sich in der bloßen Auswechslung der Machtinhaber erschöpft. Auch die Erstürmung des Winterpalais am 24.10.1917 war daher zunächst einmal keine Revolution, sondern ein „gewöhnlicher“ Putsch. Selbst wenn es im Anschluss an einen solchen Staatsstreich zu formalen Veränderungen des Verfassungssystems kommt, haben diese auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse meist keine besonderen Auswirkungen. Für die „einfache Bevölkerung“ ändern solche Machtwechsel dann im Alltagsleben vergleichsweise wenig. Sie werden denn auch nicht selten eher achselzuckend hingenommen. Zu größerem Widerstand kommt es möglicherweise erst dann, wenn und soweit die neuen Machthaber fundamentale gesellschaftliche Veränderungen „von oben“ durchdrücken wollen. Das zeigte sich auf dem afrikanischen Kontinent, wo die Aufstände der einheimischen Bevölkerungen erst extrem wurden, als diesen bewusst wurde, dass es bei der Kolonisation nicht nur um den Austausch der Herrschaftspersonen, sondern um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ging.[379] Während ein solcher |71|Austausch der herrschenden Eliten damit ohne größere Unterstützung in der Bevölkerung gelingen kann, wird eine Revolution nur bei einer ausreichenden Massenmobilisierung erfolgreich sein. Che Guevara ist das in Bolivien ab 1966 nicht gelungen, weshalb seine Umsturzversuche erfolglos blieben. Auch in Venezuela dürfte der politische Umsturz des Maduro-Regimes aus diesem Grund im Jahr 2019 nicht geglückt sein – das Militär sah sich zumindest wegen der unklaren Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung nicht gezwungen, die Seite des Regimes zu verlassen. In Bolivien war das Ende 2019 anders – Präsident Evo Morales musste nach dem Vorwurf der Wahlmanipulation das Land verlassen, weil das Militär ihn nicht mehr stützen wollte (allerdings handelte es sich auch hier vorerst nicht um eine Revolution, sondern um eine Auswechslung der Machthaber). Im Zusammenhang mit der Arabellion (ab Ende 2010) glückte die notwendige Massenmobilisierung hingegen (zunächst) durch die Nutzung sozialer Medien, die vor allem im klassischen Medium „Fernsehen“ (Sender: Al-Dschasira) gespiegelt wurde.[380] Wie die Entwicklung in Chile weitergehen wird, bleibt abzuwarten; vermutlich wird es dort zur