Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.(Facebook, Twitter, Instagram) diese These zu stützen. Man denke an das Phänomen der Echokammern, das unlängst von Cass Sunstein analysiert worden ist.[303]Paul Collier hat die zentralen Akteure dieser Medien gar als die neuen „dezentralisierten Anführer der Gesellschaft“[304] bezeichnet. Dennoch bleibt der moderne Staat nach hier vertretener Ansicht auch insoweit der zentrale Herrschaftsakteur, gerade weil er als einzige „Entscheidungs- und Wirkungseinheit“ die Möglichkeit hat, regulierend einzugreifen und die Existenz entsprechender Echokammern zu beeinflussen. Wer anderes behauptet, schließt allzu schnell von der faktischen Existenz dieser Entwicklungen auf ihre natürliche Notwendigkeit und Nichtbeeinflussbarkeit. Es stimmt insofern, dass der Staat hier nur selten eingreift. Es stimmt aber auch, dass er eingreifen könnte, wenn er wollte. Insofern sollte auch die Allgemeine Staatslehre dieser weit verbreiteten (und bisweilen in einer generell staatsskeptischen Ideologie wurzelnden) Ansicht nicht kampflos das Feld räumen. |57|Ohnehin sind gesellschaftliche und andere nicht-staatliche Herrschaftsträger seit jeher Bestandteil einer umfassenden Allgemeinen Staatslehre und müssen es auch sein[305] – dass die Souveränität des modernen Staates immer auf faktische Schranken stieß, ist erwähnt worden. Insofern sollten die aktuellen Entwicklungen nicht zu schnell als qualitativer Sprung gewertet werden, der der Idee einer Allgemeinen Staatslehre das Fundament nimmt, auf dem sie errichtet ist. Dass hier aber eine zentrale Debatte liegen dürfte, die innerhalb der Allgemeinen Staatslehre (und möglicherweise auch gegen sie) geführt werden muss, liegt auf der Hand.[306]
Fußnoten
Siehe auch E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 11; E. Özmen, Politische Philosophie, S. 18; M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 5; E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 4ff.; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 202; A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 30.
A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 16ff.
Auch der einleitende Satz „Europa hat den Staat erfunden“ von Wolfgang Reinhard in seinem bedeutenden Werk „Geschichte der Staatsgewalt“ (3. Auflage 2003) sollte nicht in diesem exkludierenden Sinne interpretiert werden.
Das betrifft die Urbanisierung ebenso wie die Entwicklung der Postkutsche.
Ein von Jürgen Osterhammel geprägter Begriff, vgl. J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 424.
Dazu A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 109ff.
Siehe aber die beeindruckenden Werke von W. Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, 3. Auflage 2016 sowie ders, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Auflage 2002.
Zur Bedeutung einer angemessenen Erinnerungskultur generell A. Assmann, Cultural Memory and Western Civilization: Functions, Media, Archives, 2012; dies., Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 2018 sowie knapp dies., Der europäische Traum, S. 38ff.
Zur deutschen Geschichte siehe W. Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, 3. Auflage 2014.
Siehe dazu auch M. Terkessidis, Wessen Erinnerung zählt. Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, 2019.
Ausführlich zu den einzelnen Merkmalen A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 44ff.
235
Vgl. auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 4.
236
A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 30.
237
Etwas anders lief die Entwicklung in England, wo das Parlament von Anfang eine bedeutende Rolle spielte, die Macht also nicht beim König allein lag.
238
In diesem Sinne aber etwa E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 11ff. Auf S. 158 hält er für die Bundesrepublik der 70er Jahre fest: „Von Souveränität im Sinne der höchsten und fortdauernden Gewalt zu sprechen wäre absurd.“
239
H. Dreier, Religionsverfassung in 70 Jahren Grundgesetz – Rückblick und Ausblick, JZ 2019, 1005 (1008), dort auch zur in der jüngeren Bundesrepublik noch sehr erfolgreichen, allerdings verfehlten Koordinationslehre.
240
Zum Begriff knapp A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 59f. Siehe auch H. Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 12ff.
241
H. Dreier, Staat ohne Gott, 2018. Längere Rezension bei D. Rennert, Liberale Theorie, Republikanische Praxis?, Der Staat 58 (2019), 411ff.
242
Siehe auch S. Lessenich, Grenzen der Demokratie, S. 64.
243
Vgl. auch J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, S. 200 sowie B. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, S. 51.
244
Siehe auch A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 84f. Siehe auch R. Zimmermann, England und Deutschland: Unterschiedliche Rechtskulturen?, S. 29 und 37ff.
245
Diese Aussage geht auf Max Weber zurück.
246
Dazu auch unten bei Frage V.
247
In den Städten und Gemeinden fanden sich hingegen teilweise bereits Differenzierungen, vor allem im Bereich des Armenrechts.
248
Katholisch, lutherisch, reformiert.
249
Siehe auch N. Ullrich, Personale Bindungen im Wandel der Verfassungen, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 51 (68ff.).
250
B. Anderson, Die Erfindung der Nation, 1996.
Überblick dazu auch bei A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 70ff.
Ausführlich dazu A. Thiele, Der gefräßige