Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.diesem Hintergrund bisher zumindest nicht gelungen. Dieser Befund schließt nicht aus, die einzelnen Elemente näher zu betrachten und auch kritisch im Hinblick auf ihre Bedeutung zu hinterfragen. Auch hier gilt es auf wandelnde Verhältnisse und technische Möglichkeiten einzugehen – in den nächsten Jahren dürfte sich etwa die Frage stellen, wo der Weltraum beginnt (und damit der Staat völkerrechtlich „endet“) und unter welchen Voraussetzungen extraterrestrische Gebiete (Mond? Mars?) zum Staatsgebiet gerechnet werden können.[272] Dabei handelt es sich weniger um eine originäre Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre als um eine solche des Völkerrechts. Die Allgemeine Staatslehre muss deren Erkenntnisse integrieren, ist aber nicht dazu aufgerufen, einen eigenen völkerrechtlichen Staatsbegriff zu entwickeln.
|49|5. Weitere Staatsbegriffe
Originäres Terrain der Allgemeinen Staatslehre wird allerdings dort betreten, wo es um die Entwicklung allgemeiner Staatsbegriffe geht, also versucht wird, das Wesen des modernen Staates konkret und losgelöst von den historischen Wesensmerkmalen und den völkerrechtlichen Vorstellungen zu fassen. Aus einer historisch-theoretischen Perspektive wird man in Anlehnung an die Dissertation von Christoph Möllers[273] die folgenden fünf Konzepte zu dem Kanon zählen können, zu dem sich auch eine moderne Allgemeine Staatslehre weiterhin verhalten sollte:
Zwei-Seiten-Theorie (Georg Jellinek). Jellinek unterschied einen Rechts- von einem Sozialbegriff des Staates, mithin eine juristisch-normative von einer sozial-faktischen Beschreibungsebene von Staatlichkeit.[274] Damit konnte der Staat nach Jellinek zwar aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, doch mussten diese Perspektiven stets sauber voneinander getrennt werden: „Eine Vermischung des Rechtlichem mit dem, was vor dem Rechte liegt, soll in einer wissenschaftlichen Darstellung der Staatslehre nicht stattfinden.“[275] Damit ging Jellinek das Methodenproblem auf innovative Weise an, ohne es jedoch überzeugend zu lösen. Mit Christoph Möllers: „Der Anstaltsstaat des staatsrechtlichen Positivismus wird der Wirklichkeit gegenüber gleichzeitig geöffnet und juristisch immunisiert.“[276]
Der Staat als Rechtsordnung (Hans Kelsen). Nach dieser Vorstellung ist das Recht die einzige Ausdrucksform des Staates: Der Staat ist das Recht und das Recht ist der Staat; außerhalb des Rechts gibt es keine Form von Staatlichkeit, kein faktisches Staatswesen, das wie bei Jellinek durch das Recht aufgenommen und geformt werden könnte. Es ging bei Kelsen insofern nicht nur darum, den juristischen Staatsbegriff noch stärker in den Fokus zu rücken. Vielmehr behauptete er die Unmöglichkeit eines außerrechtlichen Staatsbegriffs (auch für andere Disziplinen).[277] Vor allem aus diesem Grund dürfte sich Kelsens Staatsverständnis in der Folge nicht durchgesetzt haben; die Indifferenz bezüglich unterschiedlicher Staatsformen[278] (Demokratie oder Diktatur) spielte demgegenüber eher eine geringere Rolle.
|50|Der faktische Staatsbegriff (Carl Schmitt). Gewissermaßen das Gegenmodell zu Kelsen bildete das Staatsverständnis Carl Schmitts, indem nicht die normative, sondern die faktische Seite des Staates in den Vordergrund gerückt wurde (wenngleich stets auf die konkrete Verfassung bezogen). Der Staat war damit für Schmitt bereits vorrechtlich existent und zwar als politische Einheit eines Volkes, das durch diese Einheit erst in die Lage versetzt wurde, sich und damit den Staat (in einer Verfassung) zu verrechtlichen. Diese vorrechtliche Einheit wirkte aber auch nach der Verrechtlichung als politische Seite des Staates fort und konnte Abweichungen von der Rechtsordnung legitimieren – etwa wenn andernfalls die politische Einheit in Gefahr geräte. Schmitt plädierte daher für eine strikte Trennung von dem die Einheit repräsentierenden Staat und der Gesellschaft/Wirtschaft und sah mit deren zunehmender Vermischung (vor allem durch die Parlamentarisierung und die Ausweitung des Sozialstaats) konsequenterweise bereits das Ende der (beziehungsweise jedenfalls seiner Vorstellung von) Staatlichkeit angebrochen.
Wirklichkeitsorientiertes Staatsverständnis (Hermann Heller). Für Hermann Heller war vor allem die politische Wirklichkeit entscheidend, wenn es darum ging, den Staat zu definieren. Zentral waren für ihn daher die wirklichkeitsbezogenen Wissenschaften (Sozialwissenschaften). Er wandte sich damit nicht zuletzt gegen Kelsens Verrechtlichung, sah aber auch Jellinek als zu unpolitisch an. Die politische Einheit (Schmitt) war für Heller zwar durchaus relevant, allerdings nicht in Form einer unveränderlichen und vorrechtlichen oder vorstaatlichen Einheit. Vielmehr beschrieb Heller das Volk als vielfältig, dass sich daher nur punktuell und situationsbezogen zu einer Einheit zusammenfinden kann, die vom Staat immer wieder hergestellt werden muss. Der Staat war für Heller daher eine organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit, die sich von anderen (gesellschaftlichen) Einheiten dieser Art durch sein Gewaltmonopol unterschied, das zugleich die besondere Stellung des Staates ausmacht. Gerade diese letzte Prämisse wird in letzter Zeit immer wieder in Frage gestellt.
Staat als prozesshafte Integration (Rudolf Smend). Anders als Schmitt ging Smend nicht davon aus, dass dem Staat eine dauerhafte gefestigte politische Einheit voranging. Die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft führe vielmehr dazu, dass auch der Staat nicht mehr als etwas Dauerhaftes, sondern als etwas stets Wandelbares, als eine dynamische Einheit angesehen werden müsse, in der die erforderliche Einheit immer wieder neu hergestellt und realisiert werden muss. Der Staat war für Smend eine konstante Integrationsgemeinschaft. Er basierte auf dem „Sinnprinzip der Integration“ und überlebte allein dank eines gedachten Plebiszits, das sich jeden Tag aufs neue wiederholte und mit dem die Bevölkerung ihre Zugehörigkeit zum Staat zum Ausdruck brachte: „[Der |51|Staat] ist überhaupt nur vorhanden in diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhangs sind, und in den noch wichtigeren Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstande haben […]. Es ist dieser Kernvorgang staatlichen Lebens […], für den ich […] die Bezeichnung Integration vorgeschlagen habe.“[279]
Für eine moderne Allgemeine Staatslehre können diese historisch-theoretischen Staatsbegriffe nicht den Endpunkt der Debatte darstellen. Das gilt schon deshalb, weil es sich um ausschließlich deutsche Konzepte handelt, die zudem allesamt aus vordemokratischen Zeiten stammen (zumindest aus deutscher Sicht), den Wandel zum Wohlfahrtsstaat damit ebensowenig erfassen, wie die aktuellen Herausforderungen. Sie haben insofern vor allem historisch-theoretischen Wert, teilweise sind sie – wie der Schmitt’sche Begriff – für die Beschreibung des demokratischen Verfassungsstaates als pluralistischem Sozialstaat von vornherein unpassend und allenfalls als Kontrastfolie nutzbar. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie für die Entwicklung neuer Staatsbegriffe keine Grundlage darstellen könnten oder sollten. Sie müssen auch keineswegs umfassend verworfen werden, jedoch auf ihre fortbestehende Tauglichkeit für die Beschreibung und Bestimmung moderner Staatlichkeit immer wieder untersucht und gegebenenfalls angepasst werden. Dass aber etwa die Integrationslehre Rudolf Smends, die Verrechtlichungsthese Hans Kelsens und auch die Jellinek’sche Zwei-Seiten-Lehre weiterhin wissenschaftlich wertvolle, ja grundlegende Beiträge darstellen – gerade auch im Hinblick auf die europäische Integration[280] –, an denen keine Allgemeine Staatslehre vorbeikommt, wird niemand bestreiten. Gleichwohl überrascht der Befund, dass es in den letzten Jahrzehnten nur vergleichsweise wenige Versuche gegeben hat, aktuellere Staatsbegriffe zu entwickeln, die die Wandlungen von Staatlichkeit in Zeiten von Globalisierung aber auch Digitalisierung angemessen zu erfassen vermögen. Seinen Grund findet das gewiss nicht zuletzt in der zunehmenden Ablösung des Staatsbegriffs als wissenschaftliche Beschreibungskategorie, die sich bereits in der Weimarer Zeit abzeichnete, als die klassische Allgemeine Staatslehre ihre Hochzeit bereits überschritten hatte. An die Stelle des Staates trat vielmehr die Verfassung, an die Stelle der Allgemeinen Staatslehre die Verfassungslehre oder schlicht das Verfassungsrecht. Als Vertreter, die sich für eine solche Aufwertung des Verfassungsbegriffs stark machten, wird man in der früheren Bundesrepublik vor allem |52|Peter Häberle und Konrad Hesse nennen können. Die mit dieser Aufwertung bisweilen suggerierte „Reinigung“ von sozialwissenschaftlichen, politischen oder (subjektiven) staatstheoretischen Einflüssen war freilich nur eine scheinbare[281] (was allerdings nur selten zu stören schien). Der „reaktionäre“ Versuch den Staatsbegriff als Reaktion auf diese Entwicklungen wiederzubeleben und dem klassischen