Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele

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Allgemeine Staatslehre - Alexander Thiele


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auf die Ergebnisse einer Allgemeinen Staatslehre nicht abschließend klären.[212] Hier kann nur das Staatsrecht respektive das Verfassungsrecht weiterhelfen.[213] Dieser Vorwurf träfe die Allgemeine Staatslehre freilich nur, wenn sie den Anspruch erhöbe, solche konkreten Fragen zu beantworten. Das ist aber nicht der Fall. Mit anderen Worten: Die Probleme, die die Allgemeine Staatslehre aus Sicht ihrer Kritiker wie Häberle nicht zu lösen vermag, will diese gar nicht lösen. Es geht ihr um etwas anderes; sie erhebt nicht den Anspruch an die Stelle des konkreten Staats- oder Verfassungsrechts im Sinne eines „universellen Ersatzes“ zu treten. Ziel ist vielmehr durch den kritischen, distanzierten und interdisziplinären Vergleich demokratischer Verfassungsstaaten neue Erkenntnisse und Perspektiven zu gewinnen, die es ermöglichen, losgelöst von konkreten Fragestellungen, sozusagen aus der Metaebene, Impulse für die Entwicklung des konkreten Staats- und Verfassungsrechts zu geben. Eine Allgemeine Staatslehre kann damit keine konkreten staats- und verfassungsrechtlichen Probleme lösen, aber argumentatives Rüstzeug für das Sichtbarmachen bedenklicher Entwicklungen und die Bewertung real gefundener Lösungen liefern. „Worum es geht, ist in erster Linie die Konstruktion von Typen; sodann, in zweiter Linie, ihre Verwendung als Skalen, mit deren Hilfe gerade auch die Abweichung, die Distanz erkennbar gemacht werden kann, so dass es weder ein Mangel noch eine Widerlegung ist, wenn eine individuelle historische Erscheinung nur sehr partielle Annäherungen an einen Typus aufweist.“[214] So wird in Deutschland nach der langen |37|Regierungszeit Angela Merkels über eine verfassungsrechtliche Amtszeitbegrenzung des Regierungschefs diskutiert.[215] Eine Allgemeine Staatslehre kann nicht nur aufzeigen, wo entsprechende Begrenzungen bereits bestehen (selten in parlamentarischen, häufig in präsidentiellen Regierungssystemen), sondern auch, welche Vor- und Nachteile damit einhergehen und inwiefern sie mit parlamentarischen Regierungssystemen vereinbar sind. Sie öffnet den Erfahrungsschatz moderner Staatlichkeit für aktuelle Debatten, holt diese aus dem Bereich der Vermutungen und Mutmaßungen heraus und trägt zu deren Rationalisierung bei: „Das Spezifische dieser Disziplin besteht eben nicht in der Ausbildung abstrakt-begrifflicher (Staats-)Definitionen, sondern in der Distanz zu Einzelphänomenen, die vor allem über eine theoretisch angeleitete, typisierende und vergleichende Betrachtungsweise gewonnen wird.“[216] Wäre die Einführung direktdemokratischer Elemente sinnvoll? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?[217] Wann ist die Errichtung unabhängiger Verwaltungsbehörden empfehlenswert?[218] Wie lässt sich Verwaltung generell organisieren? Wo liegen Vor- und Nachteile? Wie gehen andere Verfassungsgerichte mit dem Problem ihrer Politisierung um? Um die Beantwortung solcher Fragen geht es. Damit setzt eine Allgemeine Staatslehre keineswegs die Annahme einer „vorverfassten“ oder einer „vorverfassungsrechtlichen Staatlichkeit“ voraus. Dass es letztlich also „nur so viel Staat [gibt], wie die Verfassung konstituiert“,[219] ist eine Aussage, mit der eine moderne Allgemeine Staatslehre problemlos umgehen und die ihr daher nicht als prinzipieller Einwand entgegengehalten werden kann. Im Gegenteil: Weil der Staat eine formbare sozial-normative Konstruktion ist, kann ihr kritischer Blick etwas bewirken.

      Fußnoten

       211

      P. Häberle, Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: K. Weber/I. Rath-Kathrein (Hrsg.), Neue Wege der Allgemeinen Staatslehre, S. 29ff.

       212

      Siehe auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 123.

       213

      Für eine synonyme Verwendung dieser Begriffe C. Möllers, Staat als Argument, S. 429.

       214

      S. Breuer, Der Staat, S. 12.

       215

      Dazu auch A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 317ff.

       216

      A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (3). Siehe auch M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 202: „Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen.“

       217

      Vgl. A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 332ff.

       218

      Dazu umfassend zuletzt etwa P. Tucker, Unelected Power, 2018.

       219

      So P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 620.

       [Zum Inhalt]

      |39|C. Zehn Fragen an eine Allgemeine Staatslehre

      im 21. Jahrhundert

      „Diese Staatslehre, die der Verfasser als Ergebnis einer Bemühung von beinahe 35 Jahren vorlegt, will wahrhaft eine Lehre vom Staat sein.“

      „Nach dem Standort und den Aufgaben der Staatslehre zu fragen, scheint bei dem Alter und der Tradition dieser Wissenschaft fast widersinnig zu sein.“

      „Der Staat ist ein in seiner Komplexität unerschöpfliches Thema.“

      Fußnoten

       220

      H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Vorwort S. V.

       221

      R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 15.

       222

      M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 1.

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