Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.Ende des 19. Jahrhunderts eine größere Rolle zusprechen können.[244]
Ausbildung einer zentralen Bürokratie. Die Gestaltung durch Gesetze aber auch die Konfessionalisierung bedurfte der konkreten Umsetzung innerhalb des gesamten Territoriums der einzelnen Staaten. Nach dem Vorbild der katholischen Kirche entwickelte sich eine zentralisierte Verwaltung, die im Übrigen auch von technischen Neuerungen (wie der Postkutsche) profitierte. Verwaltung ist auch heute der Aspekt von Staatlichkeit, dem die BürgerInnen am häufigsten begegnen: „Der Alltag von Herrschaft ist Verwaltung.“[245]
Errichtung eines stehenden Heeres. Mit der Veränderung der Kriegsführungstechniken ging eine professionellere Organisation der militärischen Verteidigung einher. Ausgehend von den Niederlanden und Schweden wurde der besoldete und unter Waffen stehende Soldat, der auch in Friedenszeiten seine Stellung behielt, zum neuen militärischen Standard. Dazu bedurfte es eines umfassenden militärischen Verwaltungsapparates und entsprechender Infrastruktur (vor allem über das gesamte Territorium verteilte Kasernen). Das Militär wurde zu einem wirksamen Macht- und Symbolfaktor des zentral agierenden Herrschers (Frankreich, Preußen). In vielen Staaten kommt dem Militär bis heute eine erhebliche Integrationskraft selbst in Friedenszeiten zu (USA, Frankreich). In Deutschland ist das aus historischen Gründen anders.
Umfassende Steuerfinanzierung. Im Mittelalter kam der Herrscher im Wesentlichen selbst für die Kosten der Herrschaft auf. Die Finanzierung des modernen, gestaltenden und verwaltenden Staates war auf diesem Wege nicht mehr zu leisten. Im Laufe der Zeit trat daher die Steuer als dauerhafte Einnahmequelle an die Stelle der Selbstfinanzierung: Der moderne |45|Staat ist Steuerstaat.[246] Diese Entwicklung war für den Prozess der Parlamentarisierung und damit den demokratischen Verfassungsstaat bedeutend. Die Ständevertretungen, die für die Bewilligung der Steuern verantwortlich zeichneten, waren die Vorläufer der heutigen Parlamente. Das Budgetbewilligungsrecht bildet weiterhin eine der parlamentarischen Kernkompetenzen.
Staatsvolk? Ein formales Staatsvolk, eine formale Staatsangehörigkeit kannte der moderne Staat lange Zeit nicht. Die Herrschaft war im Wesentlichen nicht personal, sondern territorial organisiert – zumindest wenn man auf die zentrale staatliche Ebene blickt.[247] Auch die Konfession ließ sich nicht als Staatsangehörigkeitsersatz interpretieren, schon weil es nur zwei (später drei) unterschiedliche Konfessionen gab[248] und diese zudem prinzipiell frei wählbar waren. Erst die Demokratiebewegung begründete das Bedürfnis ein irgendwie geartetes Volk von anderen Völkern abzugrenzen.[249] Die Idee, die in diesem Zusammenhang geboren beziehungsweise „erfunden“[250] wurde, war die der Nation – ein mehr als folgenreiches Konzept für den modernen Staat.
2. Der Nationalstaat als zentrale moderne (gescheiterte) Kategorie
Die modernen Staaten sind heute praktisch ausschließlich als Nationalstaaten konstruiert,[251] kennen neben einer nationalen Staatsangehörigkeit eine Nationalhymne, eine Nationalflagge sowie weitere nationale Symbole und sind – bis auf wenige Ausnahmen – in den Vereinten Nationen international organisiert.[252] Daraus wird bereits ersichtlich, dass sich dem Umstand Nationalstaat zu sein noch nichts über die innere Organisation des jeweiligen Staates entnehmen lässt. Handelt es sich um ein demokratisches oder ein autoritäres Regime, um eine Monarchie oder eine Republik? Entgegen den Vorstellungen der ersten Nationalisten hat sich das Konzept des Nationalstaats als überaus flexibel erwiesen und verträgt sich prinzipiell mit praktisch jeder innerstaatlichen Ordnung.[253] Auch ist es – noch nicht einmal in Europa – weder gelungen die einzelnen Nationen überschneidungsfrei voneinander |46|abzugrenzen geschweige denn jeder dieser Nationen als Ausgangspunkt einer friedlichen nationalstaatlichen Weltordnung ihren eigenen Staat zuzuweisen. In jedem Nationalstaat finden sich bis heute ethnische, religiöse oder sonstige Minderheiten, mit denen die Nationalstaaten umgehen müssen. Etliche Nationen fühlen sich bis heute um ihren eigenen Nationalstaat betrogen (Kurden, Katalanen, Schotten). Faktisch bleibt der Vielvölkerstaat die staatliche Normalität. Mit anderen Worten: Das Konzept des Nationalstaats wird man als im Kern gescheitert ansehen müssen. Die Idee der Nation hat zwar beachtliche Leistungen im Hinblick auf die Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates geleistet. Eine zentrale Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre sollte es nun jedoch sein, Möglichkeiten aufzuzeigen, den Nationalstaat (nicht aber Staatlichkeit an sich) zu überwinden und Staatsmodelle zu entwickeln, die besser geeignet sind, die heutigen staatlichen Integrationsaufgaben zu meistern und die die Schwierigkeiten, die mit dem Nationsbegriff verknüpft sind, vermeiden.[254]
3. Der demokratische Verfassungsstaat
Ein solches Modell kann der demokratische Verfassungsstaat sein, der sich mit der amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete und sich dann in mehreren Wellen[255] über den Erdball ausbreitete.[256] Anders als der Nationalstaat ist er im Hinblick auf die innere Struktur des Staates nicht mehr neutral und damit das anspruchsvollere Modell.[257] Wie der Nationalstaat kommt auch dieser allerdings nicht umhin, die Zugehörigkeit zum demokratischen Staatswesen über die Staatsangehörigkeit formal zu regeln.[258] Ohne eine formale Zuordnung ist Demokratie nicht denkbar – einerseits, weil klar sein muss, wer zum Volk gehört, von dem die Staatsgewalt ausgeht, andererseits, weil Solidarität[259] und Zusammenhalt[260] (unter anderem in Form |47|eines Sozialstaats) an eine geteilte Idee der Zugehörigkeit geknüpft sind.[261] Allerdings muss diese Zuordnung nicht auf einer wie auch immer gearteten Nation beruhen. Drei Probleme der „Integration durch Nation“ sind zu beklagen: Erstens wird dadurch die Zusammengehörigkeit im Jetzt durch den Blick in eine (vermeintlich) geteilte Vergangenheit begründet. Das war in der Anfangszeit der Nationsidee kaum anders machbar, erscheint heute aber unnötig. Da es um eine Integration im Jetzt geht, sollte die Integration auch auf einer im Jetzt ruhenden Idee basieren. Zweitens ist unklar, welche Merkmale eine Nation in diesem Sinne begründen. Das macht die Idee anfällig für Missbrauch und allzu konstruierte (beliebige) Zusammengehörigkeiten – ein Phänomen, das bis heute immer wieder vorkommt und für politische Ziele instrumentalisiert wird.[262] Drittens ist die Zugehörigkeit zu einer Nation in vielen Fällen nicht erlernbar. Wo sich eine Nation ethnisch, religiös oder über territoriale Abstammung definiert, kann eine Integration von Neuankömmlingen schon formal nicht gelingen. Die betreffenden Personen bleiben BürgerInnen zweiter Klasse. Die Denationalisierung des demokratischen Verfassungsstaates könnte einen Weg darstellen, diesen Problemen zu begegnen.[263] Die Nation würde nach diesem „Zusammengehörigkeitsnarrativ“[264] – so wie zuvor die Religion – zur Privatsache erklärt („Staat ohne Nation“) hätte dort aber weiterhin ihren Platz. Die Zugehörigkeit zum demokratischen Gemeinwesen würde hingegen über die Anerkennung erlernbarer materiell-formeller Wertevorstellungen erfolgen, die primär in der Verfassung verankert sind.[265] Darauf wird bei der letzten Fragen zurückzukommen sein.
4. Der völkerrechtliche Staatsbegriff
Das Bedürfnis nach einem völkerrechtlichen Staatsbegriff, der von den unterschiedlichen internen Verhältnissen der einzelnen Staaten abstrahiert, ist weiterhin aktuell und entfiele nur, soweit sich eine einzige interne Struktur (etwa in Form des denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates) endgültig und umfassend durchsetzen sollte. Es entstand erstmals, nachdem Anfang des 19. Jahrhunderts mit den USA und den ersten südamerikanischen nicht-monarchischen Nationalstaaten Akteure die staatliche Bühne betraten, deren Staatsqualität nicht aufgrund ihrer kontinentalen Verortung (Europa) und ihrer Staatsstruktur (Monarchie) von vornherein feststand. Die Kritik an der heute herrschenden „Drei-Elemente-Lehre“ Georg Jellineks,[266] wonach diese mit ihren Kriterien Staatsgebiet, Staatsvolk und |48|Staatsgewalt[267] allzu offen und unbestimmt sei,[268] geht insofern an der zentralen Funktion eines spezifisch völkerrechtlichen Staatsbegriffs vorbei. Dieser muss in der Lage sein, die faktische staatliche Vielfalt unter sich zu vereinen,[269] nicht aber das „wahre Sein“ des Staates gänzlich zu erfassen.[270] Es ist insofern nicht ausgeschlossen, Staatlichkeit enger oder anders zu fassen (siehe dazu sogleich); allein die Eignung einer solchen Konzeption als völkerrechtliche Staatsdefinition wäre dann in Frage gestellt. Jedenfalls eignet sich die völkerrechtliche Staatsdefinition nur bedingt dazu, „Staatspolitik“ zu betreiben, um auf diesem scheinbar formalem Wege eine bestimmte Vorstellung