Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele

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Allgemeine Staatslehre - Alexander Thiele


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durchlaufen hätten.

       Schließlich und drittens dürften die Integrationsleistungen (insbesondere der ersten Hochkulturen) auch für das Verständnis heutiger Integrationsbemühungen von Interesse sein (Stichwort: Flüchtlingskrise). Wie konnte es gelingen, nicht-verwandte Personen in die Gesellschaft aufzunehmen? Lässt sich eine solche Integrationsleistung wiederholen? Die Ausweitung der Reziprozitätsleistungen auf nicht-verwandte „fremde“ Personen bleibt eine staatliche Daueraufgabe, selbst wenn man diesen Vorgang nicht wie Rudolf Smend sogar als nachgerade staatskonstituierend ansieht.

      b) Derivative Staatsentstehung

      Während originäre Staatsentstehung ein historischer Vorgang ist, sind Formen derivativer (abgeleiteter) Staatsentstehung auf Territorien, die schon zuvor zu einem Staat gehörten, immer wieder auf der Tagesordnung. Jüngste Beispiele sind der Südsudan (2011), das Kosovo (2008) oder Montenegro (2006). Nordmazedonien existiert zwar erst seit Anfang 2019, Hintergrund bildete jedoch lediglich die mit Griechenland nach langen Verhandlungen vereinbarte Umbenennung der bereits seit 1991 bestehenden Republik Mazedonien (eine Veränderung der politischen Organisation war damit nicht verbunden). Die aktuelle Staatenwelt präsentiert immer eine Momentaufnahme, die konstanter Veränderung unterliegt. Aus völkerrechtlicher Perspektive – und diese ist in dieser Hinsicht zentral – lassen sich fünf Formen derivativer Staatsentstehung unterscheiden. Für alle lassen sich historische Beispiele angeben:

       Dismembration. Diese bezeichnet den Zerfall eines modernen Staates in zwei oder mehr neue Staaten, die umfänglich an die Stelle des bisherigen Staates treten.[343] Der alte Staat geht vollständig unter. Als Völkerrechtssubjekte sind die neuen Staaten mit dem alten Staat nicht mehr identisch (ohne dass damit etwas über mögliche völkerrechtliche Haftungsfragen |64|ausgesagt wäre). Historisch unumstrittene Beispiele bilden der Zerfall der Donau-Monarchie Österreich-Ungarn in die Staaten Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien (1918), der Tschechoslowakischen Bundesrepublik in die Staaten Tschechische und Slowakische Republik (1993) sowie der Untergang der ehemaligen UdSSR Ende 1991. Umstritten ist die Einordnung des Zerfalls Jugoslawiens (1992).

       Sezession. Bei der Sezession spaltet sich ein Teilgebiet eines bestehenden Staates ab, auf dem sodann ein neuer Staat gegründet wird. Der alte Staat bleibt in veränderter territorialer Gestalt bestehen. Die Voraussetzungen unter denen eine solche Abspaltung zulässig ist – nicht zuletzt die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker –, sind völkerrechtlich umstritten und hängen auch von der konkreten Verfassungsordnung ab. Historische Beispiele sind die Errichtung des Staates Griechenland durch Abspaltung vom Osmanischen Reich (1830), die Sezession Belgiens vom Königreich der Niederlande (1830) oder die Gründung des Irischen Freistaats durch Abspaltung vom Vereinigten Königreich (1922). Aktuelle Sezessionsbewegungen finden sich in Katalonien (zu Spanien gehörend) und – vor dem Hintergrund des Brexit – in Schottland (zum Vereinigten Königreich gehörend).[344]

       Annexion. Die Annexion meint die erzwungene (einseitige) Eingliederung eines fremden Staatsgebiets (entweder vollständig oder teilweise) in das Territorium eines anderen Staates; es geht um gewaltsamen Gebietserwerb auf Kosten eines anderen Staates.[345] Völkerrechtlich ist ein solches Vorgehen stets unzulässig, was nicht dazu führt, dass es in der Staatenpraxis unterbleiben würde. Bei einer teilweisen Annexion bleibt der Rest-Staat neben dem annektierenden Staat bestehen. Bei einer vollständigen Annexion geht der annektierte Staat (faktisch) unter. Historische Beispiele finden sich zahlreich, erwähnt sei die Annexion Tschechiens durch das Deutsche Reich im Jahr 1939 sowie die Annexion der Krim (der Ukraine zugehörig) durch Russland im Jahr 2014.[346]

       |65|Beitritt. Der Beitritt (oder Inkorporation) bezeichnet die konsentierte territoriale Übernahme eines Staates durch einen anderen.[347] Der beitretende Staat geht unter, während sich der andere Staat um das Territorium des untergegangenen Staates vergrößert. Beispiel ist der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahr 1990.

       Fusion. Hier gehen zwei oder mehr Staaten zusammen und gründen auf ihren bisherigen Territorien einen gemeinsamen neuen Staat. Die bisherigen Staaten gehen unter. Beispiele bilden die Errichtung der Schweiz im Jahr 1815 oder die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871.

      Während die Systematisierung dieser Staatsentstehungsprozesse und die Entwicklung einer Anerkennungs- aber auch einer Nachfolge- und Haftungslehre dem Völkerrecht obliegen,[348] kann die Allgemeine Staatslehre auch mit ihrem partiell historischen Blick zu einem besseren Verständnis der Prozesse beitragen. Relevant sind einerseits die internen Transformationsprozesse und andererseits die Voraussetzungen, unter denen solche erfolgreich und das heißt vor allem friedlich ablaufen können.[349] Dass auch die früh-historischen Transformations- und Wandlungsprozesse von segmentären Gesellschaften zu staatlichen Hochkulturen von Interesse sind, ist bereits erwähnt worden.

      2. Transformatorische Prozesse und Verfassungsgebung

      Damit sind wir bei einer näheren Betrachtung dieser innerstaatlichen transformatorischen Prozesse. Im Ergebnis kann nach dem soeben Gesagten keine politische Ordnung davon ausgehen, in ihrer bestehenden Ausgestaltung dauerhaft Bestand zu haben. Das gilt selbst für vermeintlich gefestigte demokratische Verfassungsstaaten, wie die aktuellen Entwicklungen in den USA, Großbritannien oder Indien zeigen.[350] Diesen Umstand unter Berufung auf ein vermeintliches Ende der Geschichte zu ignorieren, erweist sich insofern als erstaunlich geschichtslos. Jede politische Ordnung ist fragil, weil sie einen Gleichgewichtszustand gerade in sozialer Hinsicht nie umfassend zu verwirklichen vermag.[351] Die Legitimität einer Herrschaftsordnung ist kein |66|statisches Faktum, ist nichts für die Ewigkeit. Damit stellt sich für die Allgemeine Staatslehre die Frage nach dem Wesen solcher Veränderungen und nach typischen (auch historischen) Mustern dieser Wandlungsprozesse, die sich möglicherweise verallgemeinern lassen und mit deren Hilfe aktuelle Ereignisse dieser Art – etwa im Hinblick auf die Vorgänge in westlichen Demokratien – besser eingeordnet und verstanden werden können. In dieser Hinsicht wird man, geordnet nach ihrer Intensität, vier transformatorische Prozesse unterscheiden können (a–d), die in einer (neuen) Verfassung münden können, wobei der Prozess der Verfassungsgebung wiederum gewissen Regelmäßigkeiten folgt (e). Ihren Ausgangspunkt dürften sämtliche dieser transformatorischen Wandlungen in wie auch immer gearteten Legitimitätsdefiziten des bestehenden Systems haben.[352] Idealerweise ist eine neue Verfassung (respektive eine neue Interpretation der alten) dann in der Lage, die erforderliche Legitimität[353] zu generieren, die für den (stets vorläufigen) Bestand der neuen politischen Ordnung erforderlich ist.

      a) Stiller Verfassungswandel

      Mehr oder weniger im Hintergrund und von keiner zentralen Instanz koordiniert läuft der stille Verfassungswandel ab. Es handelt sich nicht um formale Änderungen der Verfassung,[354] sondern um ein im Laufe der Zeit verändertes Verständnis zentraler Verfassungsbestimmungen, die zur Gewährleistung der erforderlichen Legitimität an den gesellschaftlichen Zeitgeist angepasst werden, ohne ihren Wortlaut zu verändern.[355] Mit der veränderten Interpretation der Verfassung verändert sich so zugleich das Fundament auf dem die politische Ordnung errichtet ist. An die Existenz einer geschriebenen Verfassung ist ein solcher Wandel nicht geknüpft. Er findet auch in Staaten wie Großbritannien,[356] Neuseeland oder Israel statt, ist bei einer geschriebenen Verfassung allerdings zwangsläufig einfacher feststellbar (dafür aber möglicherweise auch verfassungstheoretisch problematischer). Das Problem eines solchen Wandels ist offenkundig. Es liegt in dem dunklen und dadurch undurchsichtigen Prozess, der entsprechende Veränderungen hervorbringt und der damit zusammenhängenden unklaren demokratischen Legitimation der neuen Interpretation bereits seit Jahrzehnten oder sogar länger bestehenden Verfassungsrechts.[357] Andererseits sind Verfassungsbestimmungen |67|vergleichsweise offen formuliert und ermöglichen dadurch die Implementierung veränderter Verständnisse, wollen das partiell sogar.[358] Eine Verfassungsordnung, die stets die politische Grundlage der aktuellen Gesellschaft abbilden und die notwendige Legitimität der aktuellen politischen Ordnung herzustellen in der Lage sein muss, allzu starr zu interpretieren und keinerlei Veränderung zuzulassen erscheint insofern verfehlt. Die Auslegung der Verfassung nach


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