Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.individuelle Ereignisse, an denen unterschiedliche Persönlichkeiten und Zufälligkeiten beteiligt sind. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre stellt sich die Frage, inwieweit es möglich ist, gewisse Regelmäßigkeiten zu erkennen, die die gesellschaftliche Situation im Vorfeld der Revolution und den „typischen“ Ablauf einer Revolution markieren. Betrachtet man die historischen und auch aktuellen Revolutionen (man denke an die „Arabellion“, den „Arabischen Frühling“ ab Ende 2010)[381] aus dieser Perspektive, so wird man im Hinblick auf die revolutionäre Situation Folgendes festhalten können:
Ausgangspunkt revolutionärer Umstürze bildet meist ein beachtliches Elitenversagen, das sich entweder in einer erheblichen Uneinigkeit, Unfähigkeit oder schlicht Korruption widerspiegelt.
Es zeigen sich meist bedeutende politische, soziale und/oder wirtschaftliche Diskriminierungen, die im Ergebnis zu nachgerade unlösbaren Gegensätzen zwischen sozialen Schichten führen.[382] Die Verfügung über die Ressourcen ist sehr ungleich verteilt, bisweilen kommt es zu Hungersnöten oder sonstigen humanitären Krisen.[383]
|72|In der gesellschaftlichen Stimmung offenbart sich ein allgemeines Krisengefühl und ein Gefühl des Niedergeschlagenseins.
Existenz einer passenden neuen Ideologie, die sich in der Gesellschaft verbreitet und hinter der sich die Revolutionäre versammeln können.
Konkreter Auslöser für die ersten (gewalttätigen) Unruhen können dann ausländische Interventionen oder aber – wie etwa in Russland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg oder in China ab 1911 – kriegerische Niederlagen sein. Der vollständige Niedergang der nationalen Armee bildet dann den Ausgangspunkt für eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Gesellschaftsordnung. Bisweilen können aber auch auf den ersten Blick eher marginale Ereignisse das „revolutionäre Fass“ zum Überlaufen bringen – im Chile kam es Ende 2019 zu Unruhen, nachdem die Preise für den öffentlichen Nahverkehr um wenige Cent erhöht wurden. Schon die Schilderung dieser gesellschaftlichen Zustände im Vorfeld von Revolutionen lässt im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in manchen westlichen Demokratien aufhorchen – ohne dass damit eine baldige Revolution prognostiziert wäre. Das Ausmaß sozialer Spaltung und der Umgang der Eliten miteinander mahnen hier aber zu einer erhöhten, historisch fundierten Wachsamkeit.
Im Hinblick auf den Ablauf einer Revolution lassen sich folgende Stufen unterscheiden, wobei sich Regelmäßigkeiten vornehmlich bei solchen Revolutionen zeigen, die letztlich in einer autoritären Ordnung, jedenfalls aber keiner demokratischen Verfassungsordnung enden. Im Folgenden ist etwa der Ablauf der Englischen, Französischen, Russischen und Chinesischen Revolution skizziert, Ähnlichkeiten zeigten sich aber auch bei einzelnen Teilrevolutionen des Arabischen Frühlings:
In einer Situation eines geschwächten Staates, der häufig nur noch durch wenige alte Oberschichten repräsentiert wird, erzwingt die Gemeinsamkeit der Gegner dieser Elite den politischen Umsturz. Es ist dies die Phase, in der sich angesichts des gemeinsamen Gegners die größte Einigkeit der Revolutionäre zeigt. Im unmittelbaren Anschluss an die „Revolution“ wird nicht selten gemeinsam ausgelassen gefeiert.
Es folgt eine idealistische Phase, die jedoch angesichts der konkreten Realitäten und Probleme bei der Neugestaltung der Gesellschaft alsbald zu einer Spaltung der Revolutionsführer in Gemäßigte und Radikale führt. Während die Gemäßigten in dieser realistischen Phase für einen behutsamen und graduellen Übergang plädieren, drängen die Radikalen auf den umgehenden Wandel und werden immer rigoroser im Umgang mit vermeintlichen Revolutionsgegnern, als die alsbald auch die gemäßigten Revolutionäre eingeordnet werden.
Aufgrund ihrer kompromisslosen Methoden steigen die Radikalen in der Revolutionshierarchie auf, verdrängen die Gemäßigten und konzentrieren die Macht um einen vergleichsweise kleinen Kreis an „echten“ Revolutionären.
|73|Es folgen Terror und Thermidor,[384] bis sich ein neuartiges autoritäres Regime herausgebildet hat, dass im Namen der Revolution herrscht und Gegner und unliebsame Opposition mit gewalttätigen Mitteln verfolgt.
Revolutionen können auch anders und vor allem erfolgreich ablaufen. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre gilt es sich aber der Gefahr bewusst zu sein, die mit revolutionären Vorgängen einhergehen kann. Die weithin gescheiterte Arabellion mahnt hier zur Zurückhaltung und vor allem dazu, die anfangs festzustellende Einigkeit der Akteure nicht mit einer dauerhaften Einigkeit in allen zentralen Fragen der Gesellschaft und ihrer zukünftigen Ausgestaltung zu verwechseln. Der entscheidende Moment einer Revolution, der über Erfolg oder Niederlage entscheidet, dürfte der Übergang von der idealistischen zur realistischen Phase sein. Hier gilt es sicherzustellen, dass aufkommende Differenzen bei der Gestaltung des „revolutionären Alltags“ nicht zu einer Spaltung und neuen Feindseligkeiten führen, die in Gewalt und Terror enden. Wege aufzuzeigen, wie dieser Übergang erfolgreich gestaltet werden kann, gehört damit zu den zentralen Aufgaben einer modernen Allgemeinen Staatslehre.
d) Kriegerische Niederlage
Die kriegerische Niederlage ist als möglicher Auslöser revolutionärer Unruhen erwähnt worden. Daneben kann eine solche Niederlage aber den Ausgangspunkt für eine friedliche und möglicherweise auch extern gesteuerte Neuordnung der politischen Ordnung bilden – die Errichtung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bildet eines der erfolgreichsten Beispiele. In beiden Fällen – also Revolution oder friedliche Neuordnung – zeigt sich die Integrationskraft, die von der Armee im modernen Staat ausgehen kann.[385] Gerade im Kriegsfall versammelt sich die Bevölkerung hinter der Armee. Die Kapitulation ist für große Teile der Gesellschaft dann gleichbedeutend mit dem Untergang des bisherigen Systems im Sinne einer „politischen Stunde Null“. Es entsteht Raum für eine neue politische Ordnung, die an die Stelle der bisherigen treten kann. Auch hier obliegt es der Allgemeinen Staatslehre Wege aufzuzeigen, wie aus einer solchen umfassenden kriegerischen und politischen Niederlage mit externer Hilfe ein neues und stabiles Staatswesen errichtet werden kann – historisch gesehen sind positive Beispiele allerdings selten.
|74|e) Verfassungsgebung und Verfassungsänderung
Neue politische Herrschaftsordnungen, vor allem solche, die aus umfassenden Reformen, Revolutionen, Dismembrationen, Sezessionen oder – wie die BRD – kriegerischen Niederlagen hervorgehen, konstituieren sich formal durch den Erlass einer neuen Verfassungsordnung.[386] Diese neue Verfassungsordnung ist Ausdruck der „verfassungsgebenden Gewalt“ des Volkes, die seit der Französischen Revolution und Abbé Emmanuel Joseph Sièyes von der „verfassten Gewalt“ des Volkes unterschieden wird:[387] „Als Autor der neuen staatlichen Ordnung setzt sich das Volk selbst ein […]. Man legt kraft autonomer Selbstorganisation und reklamierter Rechtsetzungskompetenz einen neuen normativen Grund für die gesamte Rechts- und Staatsordnung.“[388] Von Volkssouveränität sollte nur für diesen Prozess der erstmaligen Verfassungsgebung gesprochen werden. Ist die Verfassung verfasst und in Geltung gesetzt, genießt im demokratischen Verfassungsstaat kein Organ – auch und gerade nicht das Volk – Souveränität.[389]Martin Kriele hat diesen Umstand treffend auf den Punkt gebracht: „Das Vorhandensein eines Souveräns in diesem Sinne einerseits und der Verfassungsstaat andererseits sind zwei polare, einander ausschließende Gegensätze, mit anderen Worten: Die Vorstellung eines Souveräns ist revolutionärer Sprengstoff gegen den Verfassungsstaat.“[390] Nach der Verfassungsgebung agiert das Volk mithin als von der Verfassung konstituiertes Organ mit spezifischen Zuständigkeiten, das wie die anderen Organe an die vorrangige Verfassung gebunden ist.[391]
Wer sich den realen Prozess der Verfassungsgebung allerdings in Form einer sozial-romantischen Zusammenkunft aller BürgerInnen an einem Ort vorstellt, die nach anregender Debatte die neue gemeinsame Verfassungsordnung verabschieden, wird von der (historischen) Praxis enttäuscht – schon angesichts der großen Zahl an BürgerInnen wäre eine solche |75|Zusammenkunft undenkbar.[392] Hinzu kommt der Umstand, dass die komplexe Ausarbeitung einer Verfassungsordnung eine begrenzte Anzahl an Personen voraussetzt.[393] Sieht man von einer oktroyierten Verfassung ab – wie in Preußen im Jahr 1850 – erfolgt die Ausarbeitung der neuen Verfassung daher