Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.„der Märkte“ übertragen werden: Wenn dem Staat Aufgaben genommen werden, verringert sich sein Einfluss auf das ökonomische, soziale und kulturelle Zusammenleben.
Dennoch ist es nicht überzeugend, von dieser Entwicklung auf das Ende des modernen und souveränen Staates schließen zu wollen. Schon der Blick |23|in die Geschichte zeigt, dass es den vollständig souveränen Staat im Bodin’schen Sinne – also einen in jeder Hinsicht freien und von äußeren Einflüssen autarken „Leviathan“ – zu keinem Zeitpunkt gegeben hat.[129] Staatliche Souveränität (ohnehin ein nur schwer zu greifender und weiterhin umstrittener Begriff)[130] war schon immer eine Fiktion,[131] die der „reale“ moderne Staat nie umfassend erfüllte und die bei den einzelnen Staaten zudem unterschiedlich ausgeprägt war – ein Befund, der auch heute noch Geltung beanspruchen dürfte.[132] Auch Formen der Überstaatlichkeit lassen sich, wie zuletzt Ferdinand Weber gezeigt hat, schon für das frühe 19. Jahrhundert als der vermeintlichen Hochzeit des modernen Staates nachweisen.[133] Die modernen Staaten kennzeichnete mithin seit jeher eine variable oder schwankende Souveränität; sie waren mal stärker mal schwächer, mal dominanter mal abhängiger, aber stets: Staaten. Die vermeintlichen Souveränitätseinbußen erschienen womöglich gerade in den 90er Jahren mit dem Erstarken multinationaler Konzerne und den damit einhergehenden politischen („staatlichen“) Steuerungsverlusten gravierend – die Konsequenzen hat Colin Crouch in seiner „Postdemokratie“ prominent beschrieben.[134] Gleichwohl handelte es sich um kein prinzipiell neues Phänomen, keinen qualitativen, sondern allenfalls um einen quantitativen Sprung, der nicht automatisch mit dem Ende des modernen Staates gleichgesetzt werden sollte.[135]
Entscheidender sind aber zwei Einwände. So zeigt sich erstens die fortbestehende Bedeutung und Notwendigkeit staatlicher Strukturen dort, wo diese mehr oder weniger fehlen, wo der Staat also entweder im Zerfallen begriffen oder sogar bereits zerfallen ist. In Staaten wie Somalia, Syrien, dem Jemen, Simbabwe oder Libyen herrschen so prekäre und zum Teil kriegsähnliche Zustände, weil mit dem Untergang des Staates keine anderen Herrschaftsstrukturen an dessen Stelle getreten sind, die für die notwendige |24|Ordnung hätten sorgen können.[136] Welche hätten das in diesen Fällen auch sein können? Das Völkerrecht hat solchen Entwicklungen nichts oder nur wenig entgegenzusetzen und kann aus sich heraus keine ordnende Struktur gestalten. Ähnliches gilt in Afghanistan oder Sierra Leone und Staatenlosigkeit bleibt „für jedermann auch weiterhin eine beängstigende Vorstellung“.[137] Die Auflösungserscheinungen staatlicher Souveränität sind nur bis zu einem gewissen Grade ertragbar und setzen voraus, dass der sich auflösende Staat in seinen Kernfunktionen (Friedenssicherung und Bereitstellung der fundamentalen Infrastruktur) funktionsfähig bleibt. Wo der Staat aufhört, hört auch die Freiheit auf. Die Auflösung des Staates findet damit im funktionsfähigen Staat Grundlage und Grenze. Paradoxerweise wird die Diskussion und wissenschaftliche Auseinandersetzung über das Ende des Staates und seine Auflösung auch ausschließlich in Staaten geführt, in denen die grundlegenden staatlichen Strukturen die erforderliche Funktionsfähigkeit zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Freiheit aufweisen. Überspitzt formuliert: Über die langsame Auflösung des Staates und sein Aufgehen in überstaatlichen Strukturen nachzudenken, kann sich nur erlauben, wer in einem halbwegs funktionierenden Staatswesen lebt. Dieser Befund bestätigt zugleich, dass wir auf ein solches zumindest aktuell (noch) nicht verzichten können und nicht verzichten wollen. Das zeigen auch die Debatten, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise seit 2015 aufkamen. Wo staatliche Strukturen tatsächlich oder vermeintlich bedroht wurden, wurde versucht, entsprechende Bedrohungen umgehend abzuwehren und Staatlichkeit zu sichern.[138]
Mit dieser weiterhin ordnenden Funktion des Staates hängt der zweite Einwand zusammen. In den letzten Jahren zeigt sich, dass ein beachtlicher Teil der skizzierten Steuerungsverluste auf einem freiwilligen Rückzug des Staates beruhte:[139] Es war der Staat, der Zuständigkeiten und Steuerungsmöglichkeiten abgab, nicht die Globalisierung, die sie sich nahm. Es handelte sich also um keinen natürlichen, passiven und unumkehrbaren Erosionsprozess, sondern um eine vornehmlich auf neoliberalen Vorstellungen beruhende, bewusste, aktive politische Entscheidung – getroffen von im Grundsatz voll funktionsfähigen (souveränen) Staaten.[140] Es erscheint damit schon |25|im Ansatz fraglich, ob es sich als sinnvoll erweist, von Souveränitätsverlusten zu sprechen, wo es häufig nur um die möglicherweise extern motivierte, aber formal gleichwohl freiwillige Abgabe von Hoheitsrechten geht und es an den Staaten selbst liegt, diese – sofern erwünscht – wieder rückgängig zu machen.[141] „Sie [die Globalisierung, A.T.] ist vor allem auch politisch gestaltbar, zähmbar“[142] und zwar, so wäre zu ergänzen, durch den stets vorhandenen Staat selbst. „Deglobalisierung“ ist möglich, da der Staat im Hintergrund weiterhin latent vorhanden ist (was im Übrigen auch von den neoliberalen Akteuren nicht geleugnet wird, wenn sie „bei jedem auffälligen Marktversagen, wie eben den einstürzenden Finanzmärkten, nach staatlicher Unterstützung“[143] rufen). Dass eine solche Rückgängigmachung nicht nur eine theoretische Option, sondern auch praktisch durchführbar ist, zeigte sich seit 2016 gleich mehrfach: Die USA verkündeten nicht nur den Austritt aus dem Klimaabkommen, sondern kündigten zudem Freihandelsabkommen oder stellten diese in Frage und setzen mit Donald Trump vermehrt auf unilaterale Entscheidungen und weniger auf internationale Kooperation. Und Großbritannien offenbarte, dass nicht einmal „auf Ewigkeit errichtete“ supranationale Organisationen vor dem (souveränen) Staat sicher sind.[144] Es hat mit Ablauf des 31. Januar 2020 (gefolgt von einer Übergangsphase)[145] die Europäische Union verlassen – einen im weltweiten Maßstab ohnehin rein regionalen Zusammenschluss:[146] „Taking back Control“, Wiedererlangung der |26|abgegebenen Hoheitsrechte (nicht aber der im Hintergrund stets vorhandenen Souveränität), bildete in beiden Fällen das Leitmotiv. Die Vorgänge in anderen Staaten zeigen, dass diese Beispiele Nachahmer finden könnten, da die sozialen Auswirkungen der Globalisierung zunehmend skeptisch gesehen und bisweilen heftig kritisiert werden. Hier wird man einen wesentlichen Grund für das Erstarken rechtspopulistischer Strömungen in den meisten demokratischen Verfassungsstaaten finden können. Ohnehin dürfte es kein Zufall sein, dass entsprechende Renationalisierungstendenzen gerade zu einem Zeitpunkt auftreten, in denen das international globalisierte (wirtschaftliche) System dem Versprechen weltweiter Prosperität bei sozialer Gerechtigkeit nicht in ausreichender Form nachkommt.[147] Große Teile der Bevölkerung wenden sich dann wieder zum Staat, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit – allerdings unter heute nicht mehr gültigen Rahmenbedingungen[148] – mit einer ausgewogenen Balance zwischen Markt und Sozialstaat schon einmal bewiesen hat, dass er diese Aufgabe zu bewerkstelligen vermag.[149] Die Rückkehr des Staates hängt insofern eng mit der defizitären (sozialen) Leistungsfähigkeit der sich seit den 90er Jahren entwickelnden internationalen Ordnung zusammen und hat damit (bei allem unseriösen und verstörenden „Getwittere“ eines Donald Trump) einen rationalen und nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Die Legitimität jeder Herrschaftsordnung hängt unter anderem von (sozialen) Output-Elementen, von der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ab.[150] Es verwundert daher nicht, wenn der lange so vehement propagierte Rückzug des Staates auch „staatsintern“ zunehmend kritisch gesehen wird, da der Rückgriff auf die „effizienten Märkte“ auch hier nicht zu den Ergebnissen geführt hat, die man sich in sozialer Sicht möglicherweise erhofft hat – die Stichworte „Rekommunalisierung“ und „sozialer Wohnungsbau“ sollen an dieser Stelle genügen.
Man mag diese Wiederbelebung des (souveränen) Staates aufgrund der zu beobachtenden Abschottungstendenzen[151] ablehnen – der späte Zygmunt Baumann sprach kritisch von einem „Zeitalter der Nostalgie“[152] in das wir eingetreten sind – und daher für dessen Überwindung eintreten.[153] Allein |27|gegenwärtig ist der Staat weiterhin auch im Innern der bedeutendste politische Akteur,[154] oder mit Erhard Eppler: „Das nächstbessere Modell hat noch niemand entworfen“.[155] Es geht aktuell damit weniger um die Überwindung des modernen Staates als um die Einhegung eines destruktiven und autoritären Nationalismus,[156] der mit dem modernen Staat zwar zusammengehen kann, aber nicht zusammengehen muss[157] – das beweist der Blick in die Historie. Der Nationalismus ist wie der Nationalstaat eine Idee des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, als der moderne Staat längst etabliert war.[158] Gerade dem demokratischen Verfassungsstaat ist es zuzutrauen, die Geißel des feindseligen Nationalismus, dessen zerstörerische Kraft sich in zwei Weltkriegen und zahlreichen