Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.bleiben, hat sich also den Herausforderungen der Demokratisierung, Europäisierung, Transnationalisierung, Pluralisierung und Konstitutionalisierung zu stellen.“ Siehe auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 3. Auflage 2016, § 4, Rn. 30.
Vgl. auch Q. Skinner, Thomas Hobbes und die Person des Staates, S. 13: „Es ist offensichtlich, oder sollte es doch sein, dass die politische Theorie sich mit dem Staat befassen und nach der Rolle staatlicher Macht fragen muss.“ Nach hier vertretener Ansicht sollte eine Überwindung des modernen Staates aber auch normativ nicht angestrebt werden, vgl. A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 280ff.
Vgl. auch R. Hirschl/A. Shachar, Spatial Statism, ICON 17 (2019), 387ff.
A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (3).
H. Flassbeck/P. Steinhardt, Gescheiterte Globalisierung, S. 89f.
A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (3). Auch Rudolf Smends Integrationslehre bleibt aktuell.
II. Fehlt es der Allgemeinen Staatslehre an
einer adäquaten Methode?
Der zweite Einwand erscheint gravierender. Danach fehlt es der Allgemeinen Staatslehre an einer adäquaten Methode, mit der es gelingen könnte, die verschiedenen Teildisziplinen zu einer „eigenen neuen wissenschaftlichen |30|Form“ zu verdichten, „die den Gegenstand Staat als Ganzes erfassen kann“:[180] „Die an juristischen Fakultäten verankerte Staatslehre zelebriert die Form des Staates ohne zu bemerken, dass ihr sowohl die Theorie der Form wie die Empirie des Staates abhanden gekommen ist.“[181] Unter Berufung auf Niklas Luhmann[182] bezweifelt auch Christoph Möllers das interdisziplinäre Vorhaben der Allgemeinen Staatslehre, da „wissenschaftliche Disziplinen weniger um einen bestimmten Gegenstand herum entstehen als vielmehr entlang einer bestimmten Fragestellung“.[183] Das Interesse an einem gemeinsamen Gegenstand – hier dem Staat – begründe für sich noch keine interdisziplinären Erkenntnisinteressen. Speziell für die Jurisprudenz komme nach Möllers hinzu, dass diese als dogmatische Normwissenschaft den Raum für die Aufnahme interdisziplinärer Beziehungen noch weiter einschränke.[184] Die formulierten Einwände sind nicht neu – schon Hermann Hellers Staatslehre enthielt als Reaktion auf die Kritik Hans Kelsens einen langen Abschnitt zur Methodenfrage,[185] ebenso diejenige Georg Jellineks.[186] Sie wiegen gleichwohl schwer, treffen eine Allgemeine Staatslehre mit ihrem ausdrücklich interdisziplinären Ansatz sozusagen ins Mark und werden auch von renommierten Vertretern des Fachs wie Reinhard Zippelius – schon aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung des öffentlichen Rechts und der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen – nicht in Abrede gestellt.[187] Ihnen zu begegnen fällt nicht ganz leicht. Nach hier vertretener Ansicht stehen sie gleichwohl dem „bewusst unzureichenden Versuch“ einer Allgemeinen Staatslehre als Experimentierfeld nicht im Wege.
|31|Zunächst sind gewisse Zweifel angebracht, ob die Jurisprudenz tatsächlich so ungeeignet für den interdisziplinären Diskurs ist. Ist es wirklich so, dass, wie Christoph Möllers meint, „nicht klar ist, was Juristen zu einer nichtjuristischen Annäherung [an den Staat, A.T.] beitragen sollten“? Diesen Einwand wird man mit Jörn Lüdemann als überzogen zurückweisen können. Die Rechtswissenschaft hat im interdisziplinären Gespräch durchaus etwas anzubieten: „Denn das Recht ist nicht allein ein wohlgeordnetes Normensystem, sondern zugleich eine wahre Fundgrube geronnener Erfahrung. Es wäre geradezu leichtsinnig, diesen kollektiven Erfahrungsschatz durch sozialwissenschaftliche Forschung schlicht substituieren zu wollen.“[188] Fragte man bei Vertretern anderer Disziplinen nach, dürfte ein entsprechender Mehrwert auch kaum geleugnet werden.[189] Ein jüngeres Beispiel für eine solche gegenseitige Befruchtung ist die Dissertation der Politikwissenschaftlerin Verena Frick.[190] Aber auch die Debatte um die Zulässigkeit des „Nudging“[191] und den „libertären Paternalismus“ verläuft im juristisch-sozialwissenschaftlichen Dialog und prominente „Ethikräte“ sind mit Vertretern unterschiedlicher Disziplinen besetzt, zu denen auch JuristInnen gehören. In den beiden letzten Fällen sind es Debatten um das Verständnis der Menschenwürde, das die verschiedenen Disziplinen zusammenführt. Und wie verhält es sich eigentlich mit der „ökonomischen Analyse des Rechts“?[192]
Gewichtiger ist die Behauptung der generellen „Unmöglichkeit von Interdisziplinarität“ mangels konsentierter Methode und nicht zu bewältigender Stoffmenge bei der Betrachtung des „ganzen Staates“. Wissenschaftstheoretisch wird man diese – auch wenn es anregende methodische Ansätze gibt[193] |32|– kaum oder nur sehr schwer widerlegen können; die nicht zu vermeidenden Zufälligkeiten bei der Konzeption der Allgemeinen Staatslehre sind erwähnt worden. Die Frage ist aber, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind. Streng genommen müsste die Konsequenz lauten, jede Form der (scheinbar) interdisziplinären Wissenschaft von vornherein schlicht sein zu lassen. Nachfragen bei anderen Disziplinen blieben danach möglich, aber allein um, wie Möllers es formuliert, „wissenschaftliche Disziplinen aus der eigenen Stagnation zu befreien“.[194] Soll das wirklich die Lösung sein? Das erscheint aus zwei Gründen fragwürdig.
Zum einen schließt der Einwand von der (vermeintlichen) theoretischen Unmöglichkeit auf die praktische Sinnlosigkeit des Vorhabens. Weil es theoretisch nicht gelingt, umfassend rationale interdisziplinäre Erkenntnismethoden zu konstruieren, wird der Allgemeinen Staatslehre von vornherein jeder wissenschaftlich-brauchbare Erkenntnisgewinn abgesprochen: Das große umfassende Buch über den Staat sei eben nicht zu machen. Allgemeine Staatslehre lässt sich freilich nicht nur vom Ergebnis her denken, sondern auch als „ein Unternehmen verstehen, das wissenschaftliche Neuerungen aus überraschenden Verknüpfungen von normalerweise als getrennt angesehenen Disziplinen gewinnt.“[195] Solche Neuerungen sind weder von vornherein ausgeschlossen, noch notwendig völlig unbrauchbar für die Einzeldisziplinen, können vielmehr über ihre bloße „Destagnation“ hinausgehen. Thomas Vesting verweist etwa auf die von Hans-Jörg Rheinberger entwickelte Idee der „Experimentalkultur“. Diese ist zwar vor allem für die Laborwissenschaften erdacht worden, lässt sich aber auch für die Allgemeine Staatslehre fruchtbar machen. „Experimentalkulturen sind bewegliche Forschungsfelder, die ständig dazu tendieren, die Konturen und Grenzen etablierter Fächer mit ihren Ausbildungsnormen, Lehrplänen und institutionell verankerten und verfestigten Kommunikationsstrukturen zu verschieben, sie zu verwischen, aufzulösen und umzuschreiben. Experimentalkulturen, nicht Disziplinen, legen fest, wie weit zu einem bestimmten Zeitpunkt die materiell vermittelte wissenschaftliche Kooperation, die wissenschaftliche Konkurrenz und der Spielraum epistemischer Verhandlungen reichen.“[196] Es mag daher in manchen Fällen (mit Möllers) so sein, dass das Interesse an einem gemeinsamen Gegenstand keine interdisziplinären Erkenntnisinteressen begründet. Ob sich das am Ende aber auch praktisch und stets bewahrheitet, lässt sich nicht vorhersagen, weil sich die gemeinsamen Erkenntnisinteressen vielleicht im interdisziplinären Gespräch ergeben. In den Naturwissenschaften, aber auch in der Mathematik würde man das kaum bezweifeln. Die Ausdifferenzierung |33|der Rechts- und Sozialwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert macht die Angelegenheit gewiss nicht leichter. Eventuell kann sich die Allgemeine Staatslehre aber auch als eine Art Gegenbewegung präsentieren, die in all dem wissenschaftlichen „Klein Klein“ versucht, das „große Ganze“ nicht aus dem Blick zu verlieren und allzu differenzierte und kleinteilige Wissenschaftsdisziplinen[197] wieder (partiell) zusammen zu führen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.[198] Ähnlich