Die UNO. Reinhard Wesel
Читать онлайн книгу.(unilateral = einseitig) sagt, was zu tun ist, oder dass nicht nur zwei Staaten (bilateral = zweiseitig) miteinander zu verhandeln haben, sondern, dass viele, potentiell alle, zumindest mitreden, vielleicht sogar mitentscheiden können. Logisch ist inbegriffen, dass Multilateralität zu einem Verhältnis der Teilnehmer zueinander führt, das es idealerweise ermöglicht, gemeinsame Probleme als prinzipiell gleichberechtigte Staaten nach für alle verbindliche Regelungen kooperativ zu behandeln; im besten Fall würden die Interessen aller beteiligten Akteure angemessen berücksichtigt.
Multilateralismus entsteht
aufgrund der Einsicht, dass zum effektiven Problemlösen international kooperierende Partner gebraucht werden,
mittels daraufhin vereinbarter Normen, Prinzipien und Regeln
als eine soziale Ordnung unter Staaten,
die eine dauerhafte Regelung der Beziehungen und Koordination der Zusammenarbeit zwischen (mindestens drei, aber bis zu vielen oder allen) Staaten ermöglicht,
was nicht notwendigerweise aber häufig mittels internationaler Organisationen praktisch umgesetzt wird.
Komplementäre Verständnisse von Multilateralismus
Vertragsmultilateralismus oder kontraktueller Multilateralismus (Ikenberry 2003, S. 534-535): Das System aller explizit kodifizierten (oder aber auch implizit gültigen) Normen, Standards und Regeln zwischenstaatlichen Verhaltens
Organisatorischer Multilateralismus (Keohane 1990, S. 731): Das System der zwischenstaatlichen Abmachungen zur politischen, ökonomischen oder administrativen Organisation globaler oder regionaler Ordnung
Wenn eine internationale Organisation (fast) alle existierenden Staaten als Mitglieder gewonnen hat, ist sie nicht nur multilateral, sondern auch (fast) universal. Politisch bedeutet das: Alle Regierungen sind dabei und können mitreden,
was tragfähige Legitimation für Problemlösungen schaffen kann,
aber wegen der Ungleichverteilung von Ressourcen aller Art automatisch zu Problemen in Interessenkonflikten führt.
Ein nicht universaler, sondern exklusiver Club von wenigen Mächtigen könnte sich zwar vielleicht leichter einigen, aber sicherlich nicht für alle sprechen.
Politische Funktion und sachliche Aufgabe des Multilateralismus ist die Bereitstellung bzw. Sicherung von globalen öffentlichen Gütern (global public goods): Frieden und Sicherheit, funktionierende Güter- und Finanz-Märkte, intakte Umwelt und stabiles Klima, sowie Gerechtigkeit, Gesundheitsvorsorge, Freiheit des kulturellen Leben u.v.m., soweit diese Güter im einzelstaatlichen Rahmen nicht zu gewährleisten sind. Die Grundidee für jede multilaterale Kooperation ist die einer Versicherung auf Gegenseitigkeit.
Das wird paradigmatisch deutlich an der klassischen und wichtigsten Art globaler öffentlicher Güter, Frieden und Sicherheit: Zur Verhinderung von Krieg sind im unilateral/bilateralen Bezugssystem nur einseitige Aufrüstung zur Abschreckung und bestenfalls gegenseitige Ausbalancierung der Zerstörungspotentiale realistisch, während in einer multilateral organisierten Welt eine Versicherung auf Gegenseitigkeit als Ausweg möglich wird, indem alle potentiell kriegführenden Mächte sich einander in einem kollektiven Sicherheitssystem verlässlichen Schutz vor einander durch gegenseitigen Beistand garantieren.
Multilaterale Zusammenarbeit auf Gegenseitigkeit funktioniert in Abhängigkeit von der Art des politischen Problems unterschiedlich gut – die Struktur der zu behandelnden Themen und besonders die Zahl und Art der dafür relevanten Akteure bedingen die Erfolgsaussichten. Wenn (wie in Fragen der nuklearen Abrüstung) nur wenige Akteure von besonderer Bedeutung (weil sie über die realen Machtmittel Atomwaffen verfügen) miteinander verhandeln müssen, kann dies leichter bilateral oder wenigstens in einer nur kleinen Gruppe geschehen, während ein multilaterales Vorgehen nur von symbolischer Natur wäre (z.B. zur Bekräftigung der Friedenssehnsucht der „Weltgemeinschaft“). Wenn sehr viele oder alle Staaten mit einbezogen sein oder gar aktiv mitarbeiten sollen (wie bei Menschrechtsfragen oder im Umweltschutz) ist letztlich nur das mühsame multilaterale Geschäft erfolgversprechend.
Multilateralität ist heute in den vielfältigen Dimensionen des Nord-Süd-Konfliktes von größerer Bedeutung und Wirksamkeit als sie es im bipolaren Ost-West-Konflikt war. Neben rahmensetzenden Regelungen für die weltweite Ökonomie sind es die Entwicklungspolitik sowie Umwelt- und Klimaschutz, die zur Schaffung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine friedlichere Welt multilateral verhandelt und organisiert werden müssen. Dafür müssen viele recht zähe Brocken analytisch zerkaut und politisch verdaut werden. Die Entscheidungsfindung in der sog. „Entwicklungszusammenarbeit“ wird z.B. durch einen klassischen Konflikt zwischen bilateralen und multilateralen Methoden erschwert: Die politischen und wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Regierungen – der Geber wie meist auch der Nehmer – werden leichter bilateral befriedigt, während unter sach-rationalen Aspekten zumindest langfristig eine multilaterale Durchführung durch internationale Fachorganisationen viel sinnvoller wäre.
Sofern sie nicht nur eine getarnte Hegemonialität ist – also hinter dem vielfältig-bunten Betrieb eine Vormacht oder auch konkurrierende Führungsmächte verschiedener Block-Konstellationen (wie Ost gegen West, reiche gegen arme Länder o.ä.) die Entscheidungen treffen und durchziehen – hat Multilateralität einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem bilateralem Austrag von Interessenkonflikten: die Großen dürfen weniger unbekümmert ihre Macht ausüben und die kleineren Mächte können besser ihre Interessen verfolgen, weil alle ein gemeinsames höheres Interesse zumindest grundsätzlich anerkennen.
Das Funktionieren von Multilateralität wird aber durch diverse Hemmnisse und innere Wiedersprüche beeinträchtigt oder gefährdet; besonders der für multilaterale Verfahren nötige kommunikative und organisatorische Aufwand hat politisch prägende Auswirkungen: Eigentlich kann Multilateralität gar nicht richtig funktionieren, weil es praktisch nicht möglich ist, dass viele oder gar alle Regierungen so einfach miteinander reden und gemeinsam entscheiden – was mehr bedeutet als eine bloße Stimmabgabe; es müssen dafür Verfahren und Verhaltensweisen entwickelt werden, die zwangsläufig kompliziert, umständlich und wahrscheinlich oft ineffizient sind (siehe 7.).
Oft wurde als ein weiterer Vorzug von Multilateralität genannt, dass sie im Gegensatz zur geheimnistuerischen bilateralen Diplomatie zwangsläufig transparenter und somit vielleicht auch legitimer sei; das dürfte aber in den meisten Fällen ein frommer Wunsch bleiben: Eine Lüge wird dadurch nicht wahrer, dass sie öffentlich vorgebracht wird. Bedeutsamer und problematisch ist, dass die scheinbar transparente Multilateralität spezielle Formen diskreter Absprachen und Verhandlungen in kleinem Kreis herausbildet oder auch nicht-multilaterale Alternativen suchen lässt.
Denn durch komplexe Arbeitsweisen oder politische Unvereinbarkeiten überbeanspruchte Multilateralität kann auch typische Gegenreaktionen provozieren:
Austritt einzelner Staaten aus einer Organisation oder die Drohung damit (z.B. der USA aus der UNESCO wegen deren Politisierung im Nahostkonflikt, 1984-2003 und wieder 2017);
Bildung einer „coalition of the willing“ durch eine Gruppe „gleichgesinnter“ Staaten, die ihr eigenes Programm verfolgen (z.B. den Krieg im Irak 2003);
Schaffung interner Alternativen durch Doppelung/Überlappung, so dass politisch und/oder methodisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Organisationen bzw. Unterorganisationen das gleiche Problem komplementär oder konkurrierend bearbeiten, was beides eine etablierte Institution bedeutungslos machen kann (z.B. UNCTAD vs. GATT/WTO);
Nutzung externer Alternativen wie die Zusammenarbeit spezieller Staatengruppen (z.B. G7[/8]), G20), was universale Multilateralität zu untergraben droht.
Gruppenbildung ist eine zwangsläufig nötige Methode multilateraler Zusammenarbeit (siehe 7.4), aber in deren regulatorischem und organisatorischem Rahmen, nicht außerhalb. Die sich seit 1975 stetig weiter entwickelte Praxis, dass sich die führenden Wirtschaftsnationen und nun auch aufkommende Schwellenländer jenseits der Zwänge des