Die UNO. Reinhard Wesel
Читать онлайн книгу.erzwingt schon die kritische Frage: Sind die G7 und G20 als eine nicht legitimierte Konkurrenz zu den multilateralen Mechanismen der etablierten internationalen Organisationen einzuschätzen – oder als eine informelle Weiterentwicklung zu einer Art exklusivem Multilateralismus?
Internationale Kooperation kann ideal erwünscht werden, normal funktionieren oder real gefährdet sein: Ideal ist der kooperative Multilateralismus, in dem die Regeln gelingender internationaler Zusammenarbeit möglichst aller Staaten gelten und eingehalten werden. Normal ist ein imperialer oder besser hegemonialer Multilateralismus, in dem die Regeln gelingender internationaler Zusammenarbeit möglichst aller Staaten formal und auch politisch einigermaßen gewahrt, multilaterale Mechanismen aber in erster Linie doch zur Durchsetzung von Dominanz eingesetzt werden; eingeschränkte oder nur scheinbare Kooperation kann zudem unilaterale Verhaltensweisen mächtiger Regierungen maskieren.
Diese zweite Möglichkeit kann deswegen als Normalfall angenommen werden, weil die ideale Situation nur real werden könnte, wenn in einer möglichst multipolaren Welt keine gravierende Ungleichheit der Ressourcen- und Machtpotentiale der Staaten gegeben wäre – das war bisher in der Geschichte der internationalen Zusammenarbeit noch nie der Fall, weder in der UNO noch in der EU.
Gefährdet ist Multilateralismus immer und in verschiedener Weise:
Das Phänomen eines „angefochtenen Multilateralismus“ (Morse/Keohane 2014: „contested multilateralism“) ist zu beobachten, wenn Regierungen Aufgabenstellung, Regeln und/oder Arbeitsweise multilateraler Institutionen herausfordern und auf ihre Belastbarkeit austesten, um ihr Missfallen auszudrücken und entsprechende Veränderungen zu erzwingen – oder gar alternative bzw. konkurrierende multilaterale Institutionen zu etablieren und durchzusetzen; einzelne existierende Institutionen können durch solche „Anfechtungen“ Autorität verlieren, aber auch gewinnen.
Starke Staaten, zumal heute die USA, können sich es oft leisten, eine Strategie des instrumentellen bzw. selektiven Multilateralismus zu verfolgen, also aus den besten Angeboten zu wählen, ob sie in einzelnen Fragen oder ganzen Politikfeldern kooperativ oder unilateral vorgehen – aus der Sicht internationaler Organisationen ist das ein schädlicher „kompetitiver Multi-Multilateralismus“ (Braml 2009, S. 374).
Für die UNO könnte besonders der exklusive Multilateralismus nach Art der G7/G20 gefährlich werden.
Literaturverweis zu 2.2.: Multilateralismus
Acharya 2018; Barnett/Finnemore 2018; Braml 2009; Brühl 2019; Ikenberry 2003; Griffin 2018; Kahler 1992; Keohane 1990; Menzel 2001; Morse/Keohane 2014; Schieder 2018; Touval/Zartman 2010; Zürn 1998
2.3 Internationale Organisationen
Multilateralismus setzt logisch wie politisch voraus, dass sich der moderne Nationalstaat als Ordnungsprinzip historisch durchgesetzt und damit sogleich inter-nationale Zusammenarbeit für Frieden und Wohlstand nötig und sinnvoll gemacht hat: dafür geeignete Instrumente sind internationale Institutionen aller Art – informelle wie eine lockere Folge von Konferenzen oder formelle wie eine auf einem Vertrag fest basierte und organisierte Struktur:
Die meisten internationalen Institutionen sind Internationale Organisationen, doch auch sog. Internationale Regime sind zu beobachten;
Organisationen sind entweder Internationale zwischenstaatliche (oder intergouvernementale) Organisationen (International Governmental Organisations/IGOs) oder Internationale nichtstaatliche (oder Nichtregierungs-) Organisationen (International Non-Governmental Organisations/INGOs).
Die INGOs werden meist nur „NGOs“ genannt – und mit „Internationale Organisationen“ sind fast immer die zwischenstaatlichen bzw. Regierungsorganisationen gemeint. Die INGOs müssen weiter unterschieden werden in international operierende Dachverbände nationaler Interessenverbände (aus Wirtschaft und Sport oder auch aus Religion, Wissenschaft und Kultur) und ebenfalls in der sog. Zivilgesellschaft basierte Organisationen mit kritisch-politischem Anspruch zu themen- bzw. problemspezifischen Zielen und Aktions- oder Hilfs-Programmen. Wenn von den „NGOs“ gesprochen wird sind meist die zivilgesellschaftlich Guten wie amnesty international oder der World Wildlife Fund gemeint, aber auch ein Verband der ölfördernden Industrie ist eine Nichtregierungsorganisation – und letztlich gehört auch die Mafia zur Zivilgesellschaft.
Während IGOs nur auf der internationalen Ebene zwischen Staaten bzw. Regierungen arbeiten, wirken INGOs auch transnational staatenübergreifend auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Auch Militärbündnisse wie die NATO sind IGOs, die – ungeachtet realer Machtverhältnisse – zwischen souveränen Staaten funktionieren. Mit Ausnahme der Europäschen Union (EU) als spezifischem Sonderfall gibt es noch keine supranationale Organisation, die über-staatliche Kompetenzen hätte; nur der Sicherheitsrat der UNO hat bislang in bestimmten seltenen Situationen das Recht, über-staatlich einzelnen souveränen Staaten gegenüber anzuordnen, was sie zu tun oder zu unterlassen haben (siehe 6.1.2 und 8.1).
Zur Anzahl Internationaler Organisationen
Internationale Organisationen aller Art gibt es überraschend viele. Exakte Zahlen sind nicht verfügbar, doch waren in 2010er-Jahren ungefähr
zweieinhalbtausend multilaterale Verträge bzw. Abkommen in Kraft,
mehrere Tausend Internationale Nicht-Staatliche Organisationen (INGOs) aktiv, davon ein halbes Tausend von universaler Bedeutung,
zwei- bis dreihundert Internationale (Regierungs-)Organisationen (IGOs), davon über dreißig universale, im Dienst (z.B. 2001: 232/34, 2006: 246/34, 2013: 265/33)
(nach der Datenbank der Union of International Associations/UIA, Brüssel [http:/www.uia.org] bzw. das von der UIA herausgegebene „Yearbook of International Organizations“)
Eine allseits anerkannte Definition für „Internationale (Regierungs-)Organisationen“ (IGOs) gibt es nicht; auch hier gehen immer theoretische und politische Annahmen in die Formulierungen ein.
„Internationale Organisationen“: typische Definitionen
„[…] sowohl problemfeldbezogene als auch problemfeldübergreifende zwischenstaatliche Institutionen, die gegenüber ihrer Umwelt aufgrund ihrer organschaftlichen Struktur als Akteure auftreten können und die intern durch auf zwischenstaatlich vereinbarten Normen und Regeln basierende Verhaltensmuster charakterisiert sind, welche Verhaltenserwartungen einander angleichen.“ (Rittberger/Zangl 2008, S. 25)
„Unter einer IGO wird eine durch multilateralen völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Staatenverbindung mit eigenen Organen und Kompetenzen verstanden, die sich als Ziel die Zusammenarbeit von mindestens drei Staaten auf politischem und/oder ökonomischem, militärischem, kulturellem Gebiet gesetzt hat und die gegenüber ihrer Umwelt als selbständiger Akteur auftreten kann.“ (Woyke 2007, S. 203)
„Die internationalen Organisationen sind ein Zusammenschluss souveräner Staaten. Was sie erreichen können, hängt von dem Grad der Übereinstimmung ab, den sie untereinander erzielen.“ (Schraepler 1994, S. IX; Hervorhebung R.W.)
Internationale Regierungs-Organisationen (IGOs) haben immer einen Internationalen Vertrag als für die ihm beitretenden Staaten verbindliche Rechtsgrundlage (siehe 2.4). Dieser Vertrag und damit die Organisation stehen aber immer in einem größeren historischen und politischen Kontext, der Problemzusammenhänge und Arbeitsfelder absteckt, die nicht kongruent sind mit dem Zuschnitt dieser Internationalen Organisationen.
Der klassische politikwissenschaftliche Regime-Ansatz versucht deswegen, komplexe Regelungssysteme zu bestimmen und zu untersuchen, um die internationale Kooperation bezogen auf einen umfassenden Problem- und Arbeitsbereich als Ganzes in den Blick zu bekommen – wie die Nichtverbreitung von Atomwaffen, den Menschenrechtsschutz, die Regelung des Welthandels oder den Kampf gegen die Klimaerwärmung. Leider ist zumindest im Deutschen der Begriff „Regime“ uneindeutig konnotiert; alltagssprachlich ist damit meist abwertend eine eher fragwürdige einzelne Regierung gemeint.
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