Die UNO. Reinhard Wesel
Читать онлайн книгу.sollte ihre Mitglieder – gegebenenfalls auch massiv – beeinflussen können (siehe 3.2); der Anspruch auf Einmischung ist ja nicht erst bei Krieg und Völkermord relevant, sondern bei allen Problemen aufgrund eines grenzüberschreitenden oder globalen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung.
Einige Völkerrechtler postulieren, dass eine Art Verfassung der internationalen Gemeinschaft im Entstehen sei, die den Staaten abverlangt, vorrangige und vom Willen einzelner Staaten unabhängige Normen zu beachten, und ihnen letztlich als verbleibende Souveränität lediglich ein gewisses Maß an Autonomie garantiert. Das würde aber verlangen, dass die Staaten ihre Souveränitäts-Rechte wenigstens teilweise abgeben an die neu entstehende souveräne Struktur supranationalen Charakters, die im wörtlichen Sinn höherrangiger sein müsste als eine bloße internationale Organisation, die supranationale Kompetenzen allenfalls ausnahmsweise ausüben könnte. Die einzigen empirisch beobachtbaren Fälle supranationaler Kompetenz sind die vielgeschmähte Europäische Union (EU) – als einmaliger regionaler Sonderfall – und der Sicherheitsrat der UNO aufgrund seiner weitreichenden Rechte in bestimmten sicherheitsgefährdenden Situationen (siehe 6.1.2 und 8.1.2) – eine sehr spezifische und ebenfalls einmalige Regelung. Beschränkungen der Souveränität gibt es bislang nur für internationale Kooperation, nicht zugunsten der Bildung einer überstaatlichen Machtinstanz; insbesondere sind supranationale Kompetenzen für die UNO sachfremdes Wunschdenken. Und ein Weltstaat ist – dem Himmel sei Dank – nicht in Sicht.
Schlechte Political-Science-Fiction: Der „Weltstaat“
In krisengeschüttelten Köpfen spukt immer wieder ein wunderliches Gespenst: der „Weltstaat“. Auch ernstzunehmende Geister (wie Albert Einstein) haben von dieser utopischen Spinnerei geträumt. Der Gedanke ist gespenstisch, weil der Weltstaat schon ein Zombie sein muss bevor er je leben konnte. Der anspruchsvollen Idee eines die ganze Welt regierenden Zentralstaates, der mit Weltethik und Weltgesetzen, Weltpolizei und Weltgerichten weltweit Frieden und Gerechtigkeit schafft, genügten weder die alten Weltreiche noch die katholische („alles umfassende“) Kirche und erst recht nicht zwischenstaatliche „Weltorganisationen“ wie der Völkerbund oder heute „die UNO“; keine politische Kraft ist vorstellbar, die einen Weltstaat errichten und seine Macht sichern könnte.
Der Weltstaat und seine Regierung sind unmöglich und unerwünscht – vor allem wären sie ungeeignet für die Lösung globaler Probleme: Ein globaler Staat über allen Völkern und Kulturen wäre notwendig zentralistisch und bürokratisch, nach demokratisch-partizipatorischen Standards nicht kontrollierbar; nicht mal aus technokratischer Sicht würde er problemspezifisch genug funktionieren. Zwar gelten bekennende Anhänger der Allmachts-Phantasien vom Weltstaat als skurrile Außenseiter, aber als leitende Idee oder Denkreflex wirkt der Weltstaatsgedanke hintergründig: „die UNO“ wurde schon von vielen Zeitgenossen ihrer Gründung und von überzeugten Unterstützern als Weltstaats-Ersatz missverstanden.
Wo es keinen „Weltstaat“ gibt, gibt es auch kein „Weltrecht“ in seinem Rahmen und Namen; was bleibt ist ein zwischenstaatliches Recht, das nicht über den Staaten steht, aber unter ihnen Ordnung vorgeben und Verbindlichkeit herstellen kann – soweit diese das als Einzelne zulassen, aber auch als Kollektiv umsetzen. Dahinter bleibt die philosophische Frage offen, ob die universale Gültigkeit menschheitsübergreifender Rechtsnormen mit globalem Anspruch anzunehmen oder gar zwingend zu begründen ist.
Das „Völkerrecht“ ist also keine einfache Materie: Wie es entsteht, wer es trägt und wen es verpflichtet bzw. „bindet“, was seine Grundsätze sind – und wie und von wem es durchgesetzt werden kann – sind schwierige Fragen.
Quellen des Völkerrechts/internationalen Rechts sind
hauptsächlich und vorrangig Internationale Verträge – der wichtigste ist die Charta der Vereinten Nationen (siehe 4),
aus der Praxis entstandenes Gewohnheitsrecht,
allgemeine Rechtsgrundsätze,
richterliche Entscheidungen von international zuständigen Gerichtshöfen
und qualifizierte Lehrmeinungen.
Quellen des Völkerrechts/internationalen Rechts nach dem Statut des Internationalen Gerichtshofes (IGH) Art. 38 Abs. 1
„Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden, wendet an
internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Staaten ausdrücklich anerkannte Regeln festgelegt sind;
das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung;
die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze;
[…] richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen.“
Rechtssubjekte des Völkerrechts /internationalen Rechtes – also Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten – sind
in erster Linie (souveräne) Staaten,
eingeschränkt Internationale Organisationen,
selten auch Individuen.
Tragende Prinzipien des Völkerrechts /internationalen Rechtes sind
Souveränität und zugleich Interventionsverbot: Seine innere politische Ordnung ist von jedem Staat unabhängig selbst zu bestimmen und er hat somit die uneingeschränkte Gebietshoheit und Personalhoheit; es gibt also kein Recht zu Eingriffen in einen Staat seitens eines anderen oder mehrerer anderer Staaten – auch nicht aller anderen zusammen – daher gilt das Interventionsverbot, das die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eines souveränen Staates garantiert.
Gleichheit: Für alle souveränen Staaten gilt logischerweise (pars in parem non habet imperium) ungeachtet ihrer Größe, Lage, Macht, Geschichte u.a. gleiches Recht, z.B. im Prinzip „Ein Staat = eine Stimme“ bei Abstimmungen in internationalen Organisationen (allerdings nicht in allen, was begründet sein muss).
Reziprozität: Was für Staat A gegenüber Staat B gilt, gilt gleichermaßen auch für Staat B gegenüber Staat A; jeder Staat ist somit rechtlich sowohl Urheber wie Adressat.
Gewaltverbot: Die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates ist verboten; wie das Interventionsverbot ergibt dies sich schon aus dem Souveränitätsprinzip, dazu kommt der Ausschluss von Gewalt als legitimem Mittel der Außenpolitik; das Recht auf Selbstverteidigung ist aber gegeben.
Grundsatz von „Treu und Glauben“: Die Staaten sind zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet, d.h. Verträge müssen eingehalten werden (pacta sunt servanda), einseitige Versprechen sind verbindlich, Rechtsmissbrauch ist verboten u.ä.
Instrumente zur Durchsetzung des Völkerrechts/internationalen Rechtes sind
Internationale Gerichte (wie IGH, EGMR oder spezielle Schiedsstellen wie die der WTO),
Internationale Organisationen, in erster Linie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (siehe 6.1.2).
Bislang schützt das Völkerrecht in erster Linie die souveränen Staaten: Gewaltverbot und Interventionsverbot garantieren den Bestand jeden Staates; nur er kann seine innere Ordnung bestimmen und nur er hat das legitime Gewaltmonopol auf seinem Territorium; in seinem auswärtigen Handeln ist er allerdings eingeschränkt.
Das Problem einer Rechtsordnung ohne eigenen Rechtsstaat bleibt: Welche/wessen Macht darf und kann Gerichtsurteile oder Beschlüsse des Sicherheitsrates umsetzen? Da es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die internationales Recht faktisch durchsetzen könnte, gilt es leider oft nur kontrafaktisch – aber: Außer illegitimer Ausübung von Gewalt bleibt als Option nur mühselige internationale Kooperation.