Die UNO. Reinhard Wesel
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3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“
Zwischen Staaten gibt es schon seit längerem Abstimmung von und Zusammenarbeit bei Regelungen sowie dazu dienende Institutionen – was wir heute internationale Kooperation und Organisation nennen. Die ersten funktionsspezifischen internationalen Organisationen erzwang der technisch-industrielle Fortschritt, wenn technische oder logistische Fragen über Staatsgrenzen hinweg abgestimmt und organisiert werden mussten, so für die Rheinschifffahrt schon 1815, dann für die Telegraphie 1865, in der Meteorologie 1873, für Post 1874 und Eisenbahn 1922; aber auch die internationale Arbeitsorganisation wurde als erste fachpolitische schon 1919 gegründet.
Universale internationale Organisationen mit nicht spezifisch eingegrenzten, sondern weitreichendem oder umfassenden politischen Anspruch wurden aus Krieg und Zerstörung geschaffen – um den Frieden zu wahren. Alle internationalen Organisationen und besonders das schwer durchschaubare Geflecht der heutigen Vereinten Nationen (UNO) sind nur aus der geschichtlichen Situation zur Zeit ihrer Entstehung heraus zu verstehen:
Nach der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen ordnete der Wiener Kongress die Staatenwelt;
der Völkerbund wurde aus dem Ersten Weltkrieg entwickelt als Versuch, wenigstens eine friedenswahrende Instanz den bisher zum Frieden unfähigen Nationalstaaten entgegenzusetzen;
die Vereinten Nationen (UNO) wurden mitten im Zweiten Weltkrieg erarbeitet, ausgehandelt und noch vor dessen Ende gegründet – ungefiltert aufgrund der Erfahrungen dieses mörderischsten aller Kriege, der schon vor dem ersten Einsatz der Atombombe die Gefahr der Zerstörung der menschlichen Zivilisation ahnen ließ.
Die UNO hatte zudem die zwei schlimmsten Massenmörder der Weltgeschichte als „Paten“ ihrer Entstehung aus dem Zweiten Weltkrieg – Hitler als Feind jeder Zivilisation und zu besiegender Kriegstreiber, Stalin als notwendiger Alliierter im Krieg und als Kooperationspartner für eine Friedensordnung danach. Das ist kein Makel für die UNO, aber markierte von vorne herein, wie schwierig ihre Arbeit sein würde.
Internationale Organisationen als „gefrorene Entscheidungen“ (Keohane 1988, S. 384) oder „Geschichte verschlüsselt in Regeln“ (March/Olson 1984, S. 741) zu sehen, erleichtert sehr, sie angemessen einzuschätzen.
3.1 Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg
So alt wie die Menschheit ist der Krieg – eben so alt ist der Traum vom Frieden in der Welt. Diesen Traum zu verwirklichen könnte nur gelingen, wenn
als minimaler Konsens Grundsätze einer universalen Friedensethik gültig wären
und zugleich oder wenigstens alternativ
Friedenssicherung auch „realpolitisch“ verlässlich durchgesetzt werden könnte
sei es durch eine dauerhaft übergeordnete imperiale Macht, sei es durch ein verbindliches Regelsystem, das alle potentiellen Friedensstörer zum Wohlverhalten verpflichtet.
Konzepte und Vorschläge zur Sicherung von Frieden in Antike und Mittelalter hatten wenig Erfolg: Die Militärbündnisse der griechischen Stadtstaaten und das römische Imperium suchten den Krieg mit Kriegsbereitschaft zu kontrollieren („si vis pacem para bellum“); das mittelalterliche Reich unter der Führung von Papst und/oder Kaiser sollte auch als Garant von Frieden zumindest innerhalb der Christenheit verstanden werden, war es aber selten.
Manche Ideen waren aber originell und wohl überlegt: Der Mönch Engelbert von Admont hatte im frühen 14. Jh. schon das Konzept eines ausgleichenden „Weltstaates“ mit einer Eintracht erzwingenden einheitlichen „Weltregierung“; auch der Dichter Dante Alighieri dachte zu dieser Zeit über eine Gerechtigkeit schaffende Weltmonarchie nach; 1462 entwarf der böhmische König Georg von Podiebrad einen recht konkreten und anspruchsvollen Staatenbundplan, wonach eine europäische Friedenskonferenz ein Schiedsgericht zur Streitschlichtung einrichten und mit einer gemeinsamen Armee Frieden schaffen sollte.
In der Neuzeit wurden differenziertere Optionen durchdacht, denn mit der Etablierung der Nationalstaaten als exklusive Träger der unteilbaren Souveränität im modernen Staatensystem – historisch am Ende des Dreißigjährigen Krieges im Vertragswerk des „Westfälischen Friedens“ von 1648 zu greifen (siehe 2.4) – mussten sich alle Überlegungen zu einer Friedensordnung am neuen Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten orientieren: Nicht mehr denkbar waren nun alle zentralisierten und hierarchischen Herrschaftsformen, die eigenständige Regelungskompetenz statt der und über den nationalstaatlichen Regierungen hätten, also kein Reich/Imperium/Weltstaat mit einer zentralen supra-nationalen Zentralinstanz/Weltregierung – wohl aber freiwillige Staaten-Bünde und zwischen–staatliche = inter–nationale Institutionen.
Die unterschiedlichsten Überlegungen und Vorschläge für eine Organisation der internationalen Gemeinschaft wurden angeboten von Praktikern wie dem französischen König Heinrich IV. oder dem Herzog von Sully, doch vor allem durch Gelehrte: Hugo Grotius, Eméric Crucé, William Penn, Charles Irénée Castel (Abbé de Saint-Pierre), Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Jeremy Bentham. Einige skizzierten schon recht konkret Struktur und Funktionsweise der späteren internationalen Organisationen, Castel entwickelte gar schon den Gedanken eines Rechtes auf Einmischung in die Souveränität; der Jurist Hugo Grotius klärte erstmals die Grundsätze des internationalen Rechts („De jure belli et pacis“/„Über das Kriegs- und Friedensrecht“, 1652); der Philosoph Immanuel Kant gab eine Argumentations-Vorlage zu den Möglichkeiten internationaler Organisation („Zum ewigen Frieden“, 1795), mit der heute noch gerne gearbeitet wird.
Intellektuell angeregt von diesen friedenstheoretischen Werken, religiös und idealistisch vom Friedenswunsch inspiriert, aber auch ökonomisch gegen die Kosten von Krieg motiviert, entstanden seit dem 19. Jh. in den USA und Großbritannien und später in ganz Europa die unterschiedlichsten Friedensgesellschaften.
Abrüstung, internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts u.v.m. wurden auf diversen internationalen Friedenskongressen diskutiert und propagiert. Als weltfremd und naiv geschmäht hatten die Friedensbewegten gegen den in den meisten Ländern nationalistischen und militaristischen Zeitgeist überraschend großen Erfolg bis in die Tagesordnungen der internationalen Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907; der Kampf gegen das Wettrüsten ging verloren, aber wenigstens humanitäre Regeln für die Kriegführung konnten durchgesetzt werden.
Noch älter als der Völkerbund von 1919 und viel älter als die UNO von 1945 sind einzelne funktionsspezifische internationale Organisationen. Die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung zwang schon im 19. Jahrhundert die sich rasch industrialisierenden Nationalstaaten zu internationaler Kooperation, damit Fortschritte auch organisatorisch umgesetzt werden konnten. Dazu gab es unterschiedliche Wege der Entwicklung und dann der Kooperation mit den jüngeren universalen Organisationen Völkerbund und Vereinte Nationen.
Das Wetter – selbst im klassischen Zeitalter der Nationalstaaten naturgemäß ein übernationales Phänomen – regte die Meteorologie schon 1873 an, die Leiter der einzelnen Wetterdienste in einer internationalen nichtstaatlichen Organisation zusammenarbeiten zu lassen, die erst gut sieben Jahrzehnte später zur einer zwischenstaatlichen „Sonderorganisation“ der UNO (siehe 5.3) wurde. Auch die altehrwürdige internationale Postorganisation von 1874 wurde ebenso erst nach fast gleich langer Zeit durch Kooperationsverträge als Regierungsorganisation eine Sonderorganisation der UNO. Dagegen kam der grenzüberfahrende Zugverkehr überraschenderweise lange ohne eine fachspezifische internationale Organisation aus, bis dann 1922 ein internationaler Verband der Bahnen und Unternehmen, nicht der Staaten, gegründet wurde, der nie eine formelle Bindung zum UN-System einging. Neben den klassischen frühen Organisationen gab es einige internationale