Zwei Städte. Charles Dickens

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Zwei Städte - Charles Dickens


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daß Mrs. Cruncher im Stillen ein Tischgebet sprach.

      „Was, Du Höllenbraten! Was machst Du da? Fängst Du schon wieder an!“

      Seine Frau entschuldigte sich, daß sie blos ein Tischgebet gesprochen.

      „Das lässest Du bleiben!“ sagte Mr. Cruncher und sah um sich, als ob er eher erwartete, das Brod in Folge des Gebets seiner Frau verschwinden zu sehen. „Ich lasse mir’s nicht gefallen, aus Haus und Hof gebetet zu werden, ich lasse mir das bischen Brod nicht vom Tische wegbeten. Daß du mir’s bleiben lässest!“

      Ausnehmend roth und grimmig um die Augen, als ob er die ganze Nacht in einer Gesellschaft gewesen, die durchaus kein gemüthliches Ende genommen, zerzauselte Jerry Cruncher sein Frühstück mehr, als daß er es aß und knurrte dabei wie der vierfüßige Inwohner einer Menagerie. Gegen neun Uhr legte sich sein borstiges Wesen etwas und mit einem so respectabeln und geschäftsmäßigen Aeußern, als er über sein wahres Ich decken konnte, ging er seiner Tagesbeschäftigung nach.

      Es konnte kaum ein Gewerbe genannt werden, trotzdem daß er sich so gern „einen ehrlichen Gewerbsmann“ nannte. Sein Geschäftscapital bestand in einem hölzernen Sessel, verfertigt aus einem Stuhle, von dem man die zerbrochene Lehne abgesägt hatte, welchen Sessel der junge Jerry, neben seinem Vater herlaufend, jeden Morgen unter das Contorfenster zunächst dem Tempelthore stellte, wo er mit Hinzufügung der ersten Hand voll Strohs, das von einem vorübergehenden Wagen geraubt werden konnte, um die Füße des Ausläufers vor Kälte und Nässe zu bewahren, den Lagerplatz für den Tag bildete. Auf diesem seinem Posten war Mr. Cruncher in Fleetstreet und im Tempel ebenso bekannt, wie das Thor selbst und fast ebenso häßlich von Aussehen.

      Ein Viertel vor neun Uhr auf seinem Posten eingetroffen, noch zur rechten Zeit, um vor den ältesten Männern, wie sie zu Tellsons hineingingen, grüßend an den dreieckigen Hut zu fassen, saß Jerry an diesem windigen Maimorgen auf seinem Sessel und der junge Jerry stand neben ihm, wenn er es nicht vorzog, Streifzüge durch das Thor zu machen, um vorübergehenden Jungen, die klein genug zu diesem liebenswürdigen Zweck waren, körperliches und geistiges Leid schmerzlichster Art zuzufügen. Vater und Sohn, die sich einander außerordentlich ähnlich sahen, hatten, wie sie schweigend dem Verkehr in Fleetstreet zusahen und dabei ihre beiden Köpfe so nahe an einander brachten, wie die Augen bei Beiden waren, eine merkwürdige Aehnlichkeit mit ein Paar boshaften Affen. Die Aehnlichkeit wurde durch den zufälligen Umstand nicht vermindert, daß der ältere Jerry Stroh zerbiß und ausspuckte, während die beweglichen Augen des jungen Jerry ihn so ruhelos beobachteten, wie alles Andere in Fleetstreet.

      Einer der angestellten Ausläufer in Tellsons Contor steckte jetzt auf einmal den Kopf durch die Thür und rief:

      „Heda, Jerry!“

      „Hurrah, Vater! das fängt heute Morgen frühzeitig mit der Arbeit an!“

      Nachdem sein Vater in das Contor hineingetreten war, setzte sich der junge Jerry auf den Stuhl, trat die Erbschaft des Strohs an, das sein Vater zerkaut hatte und dachte nach:

      „Immer rostig! Seine Finger sind immer rostig!“ brummte der junge Jerry vor sich hin. „Wo kriegt mein Vater all den Rost her? Hier kriegt er doch keinen Rost an die Finger?“

       Ein Schauspiel.

      „Ihr seid jedenfalls in Old Bailey wohlbekannt?“ sagte einer der ältesten Contordiener zu Jerry, dem Ausläufer.

      „Ja—a, Sir!“ entgegnete Jerry in etwas mürrisch-stockender Weise. „Ich bin in Bailey bekannt.“

      „Richtig. Und Ihr kennt Mr. Lorry?“

      „Ich kenne Mr. Lorry viel besser, als Old Bailey, Sir, viel besser,“ sagte Jerry, fast wie ein widerwilliger Zeuge in dem fraglichen Gerichtslocal, „viel besser, als ich, ein ehrlicher Gewerbsmann, Old Bailey zu kennen wünsche.“

      „Sehr gut. Sucht also die Thür, wo die Zeugen hineingehen und zeigt dem Thürsteher dieses Billet für Mr. Lorry. Er wird Euch dann hineinlassen.“

      „In den Saal, Sir?“

      „In den Saal.“

      Mr. Crunchers Augen schienen noch ein Wenig näher zusammenzurücken und mit einander die Frage zu tauschen: Was denkst du davon?

      „Habe ich im Saale zu warten, Sir?“ fragte er als Ergebniß dieser Conferenz.

      „Das will ich Euch gleich sagen. Der Thürsteher schickt das Billet zu Mr. Lorry und Ihr macht Euch durch irgend eine Geberde Mr. Lorry bemerklich und zeigt ihm, wo Ihr steht. Dann habt Ihr weiter Nichts zu thun, als zu warten, bis er Euch braucht.“

      „Ist das Alles, Sir?“

      „Das ist Alles. Er wünschte einen Boten bei der Hand zu haben. Durch dieses Billet wird er benachrichtigt, daß Ihr da seid.“

      Als der alte Handlungsdiener überlegsam das Billet zusammenbrach und mit der Adresse versah, bemerkte Mr. Cruncher, nachdem er ihm stillschweigend zugesehen, bis er zum Abtrocknen auf dem Löschpapier kam:

      „Es wird sich wohl heute um Fälschung handeln?“

      „Um Hochverrath!“

      „Da steht Viertheilen drauf. Barbarei!“

      „Es ist Gesetz und Recht,“ bemerkte der alte Diener und sah ihn überrascht durch die Brille an.

      „S’ist hart vom Gesetz, einen Menschen zu verunstalten, meine ich. Es ist hart genug, ihm das Leben zu nehmen, aber es ist sehr hart, ihn zu verunstalten, Sir.“

      „Ganz und gar nicht,“ entgegnete der alte Diener. „Sprecht gut vom Gesetz. Tragt Sorge für Eure Brust und Eure Stimme, guter Freund, und laßt das Gesetz für sich selber Sorge tragen. Den Rath gebe ich Euch.“

      „S’ist die Nässe, Sir, die sich mir auf Brust und Stimme legt,“ sagte Jerry. „Daran können Sie selbst sehen, auf welchem nassen Wege ich mir mein tägliches Brod verdienen muß.“

      „Schon gut, schon gut,“ sagte der alte Diener; „jeder hat seinen eigenen Weg, sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Manche thun es auf nassem Wege und manche auf trockenem Wege. Hier ist der Brief. Sputet Euch!“

      Jerry nahm den Brief und sprach zu sich mit viel weniger innerer Ehrerbietung, als er äußerlich zur Schau trug, „Ihr wollt ein Geriebener sein,“ machte seine Verbeugung, unterrichtete seinen Sohn im Vorbeigehen von seiner Bestimmung und ging seines Wegs.

      Sie henkten zu jener Zeit in Tyburn. Die Straße vor dem Newgatekerker vorüber hatte noch nicht jene gräßliche Notorität erlangt, die jetzt an ihr haftet. Aber das Gefängniß war ein greuelvoller Ort, wo fast jegliche Ausschweifung und Schlechtigkeit verübt ward und wo böse Krankheiten sich erzeugten, die mit den Gefangenen in den Gerichtssaal kamen und manchmal von der Verbrecherbank geraden Wegs auf den Lord-Oberrichter losstürzten und ihn von seinem Sitz herunterzerrten. Mehr als einmal war es geschehen, daß der Richter in der schwarzen Mütze sein eigenes Urtheil so sicher wie das des Gefangenen sprach und sogar noch vor ihm starb. Im Uebrigen war Old Bailey berühmt als eine Art von Sterbestation, von wo leichenblasse Reisende beständig in Karren und Kutschen eine gewaltsame Reise in die andere Welt antraten, wobei sie zwei und eine halbe englische Meile Stadt- und Landstraße durchfuhren, und wenn überhaupt, nur in wenigen guten Bürgern einen heilsamen Abscheu erregten. So mächtig ist die Gewohnheit und so wünschenswerth, daß sie von Anfang an gute Gewohnheit sei. Auch war Old Bailey berühmt wegen des Prangers, eine weise und uralte Einrichtung, welche eine Strafe verhängte, deren Schärfe Niemand ermessen konnte; auch wegen des Prügelpfahls, eine andere liebe und altbewährte Einrichtung, deren Wirksamkeit anzusehen sehr vermenschlichend und mildernd auf das Gemüth wirkte; auch wegen ausgedehnter Geschäfte in Blutgeld, ein anderes Bruchstück der Weisheit unserer Vorväter, das systematisch zu den schrecklichsten für Geld begangenen Verbrechen führte. Im Ganzen war zu jener Zeit Old Bailey eine auserlesene Erläuterung des Spruchs: „Was ist, ist Recht“; ein Spruch, der ebenso Alles abschließend sein würde, als er die Trägheit fördernd


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