Zwei Städte. Charles Dickens

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Zwei Städte - Charles Dickens


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Es waren keine andern Passagiere auf dem Schiffe, als wir vier. Der Angeklagte war so gütig, um Erlaubniß zu bitten, mir einen Rath geben zu dürfen, wie ich meinen Vater vor Wind und Wetter, besser als ich es gethan, schützen könnte. Was ich gethan hatte, reichte nicht aus, da ich nicht wußte, wie der Wind stehen würde, nachdem wir den Hafen verlassen hatten. Er half mir dem Mangel abhelfen. Er sprach sich sehr theilnehmend und gütig über meinen Vater aus und ich bin überzeugt, es kam ihm von Herzen. In dieser Weise wurden wir mit einander bekannt.“

      „Erlauben Sie mir, Sie einen Augenblick zu unterbrechen. War er allein an Bord gekommen?“

      „Nein.“

      „Wie Viele kamen mit ihm?“

      „Zwei französische Herren.“

      „Sprachen sie viel mit einander?“

      „Sie sprachen mit einander bis zum letzten Augenblick, wo die französischen Herren wieder mit dem Boote an’s Land fahren mußten.“

      „Machten sie sich unter einander mit Papieren zu thun, gleich diesen Papieren hier?“

      „Einige Papiere gingen bei ihnen von Hand zu Hand, aber ich weiß nicht, was für Papiere es waren.“

      „Sahen sie in Gestalt und Format wie diese aus?“

      „Das ist wohl möglich, aber ich weiß es wahrhaftig nicht, obgleich sie ganz in meiner Nähe flüsternd miteinander sprachen: weil sie oben an der Kajütentreppe standen, um das Licht der dort hängenden Laterne zu benutzen; die Laterne brannte trübe und sie sprachen sehr leise und ich konnte nicht verstehen, was sie sprachen und sah nur, daß sie Papiere durchgingen.“

      „Was sprach der Angeklagte mit Ihnen, Miß Manette?“

      „Der Angeklagte sprach sich ebenso offen gegen mich aus, wie er in Folge meiner hülflosen Lage gütig und freundlich und meinem Vater hülfreich war. Ich hoffe,“ sagte sie in Thränen ausbrechend, „daß ich ihm nicht schlechten Dank zahle, indem ich ihn heute zu Schaden bringe.“

      Großes Gesumme der Schmeißfliegen.

      „Miß Manette, wenn der Angeklagte nicht klar erkennt, daß Sie die Aussagen, welche zu machen Ihre Pflicht ist — welche Sie machen müssen — und welchen Sie sich gar nicht entziehen können — mit großem Widerwillen abgeben, so steht er einzig unter den Anwesenden da. Bitte, fahren Sie fort.“

      „Er sagte mir, daß er in schwierigen und wichtigen Geschäften reise, welche den Betheiligten leicht Ungelegenheiten verursachen könnten und daß er deshalb unter falschem Namen reise. Er sagte, daß ihn sein Geschäft veranlaßt habe, nach Frankreich zu reisen und daß es ihn möglicherweise noch auf lange Zeit nöthigen werde, zu wiederholten Malen zwischen Frankreich und England hin und her zu reisen.“

      „Sagte er Nichts von Amerika, Miß Manette? Besinnen Sie sich genau.“

      „Er versuchte, mir auseinanderzusetzen, wie der Streit entstanden und sagte, daß, soweit er urtheilen könnte, es englischer Seits ein ungerechter und thörichter Streit sei. In scherzendem Tone setzte er hinzu, daß George Washington sich vielleicht in der Geschichte einen so großen Namen erwerben werde, als Georg III. Aber er meinte das nicht böse: er sagte es mit Lachen und um die Zeit zu vertreiben.“

      Jeder stark ausgeprägte Gesichtsausdruck des Haupthandelnden in einem Auftritt von großem Interesse, dem viele Augen zusehen, wird unwillkürlich von dem Zuschauer nachgeahmt werden. Peinlich und angstvoll gespannt war der Ausdruck ihrer Züge, wie sie ihr Zeugniß abgab und während der Pausen, die sie machen mußte, um dem Richter Zeit zu lassen, es niederzuschreiben, den Eindruck beobachtete, den ihre Aussagen auf die Advocaten für und gegen die Anklage machten. Unter den Zuschauern im ganzen Saale zeigte sich derselbe Gesichtsausdruck und zwar in so hohem Grade, daß eine große Mehrzahl der Gesichter Spiegelbilder der Zeugin hätten sein können, als der Richter von seinen Notizen aufschaute, um mit einem fürchterlichen Blick die schreckliche Ketzerei wegen George Washington zu bestrafen.

      Der Generalanwalt erklärte jetzt dem Richter, daß er es der Vorsicht und der Form wegen für nothwendig halte, den Vater der jungen Dame, Dr. Manette, als Zeugen aufzurufen. Er wurde demnach aufgerufen.

      „Dr. Manette, sehen Sie den Angeklagten an. Haben Sie ihn früher einmal gesehen?“

      „Einmal. Als er mich in meiner Wohnung in London besuchte. Es mag drei oder drei und einhalb Jahr her sein.“

      „Erkennen Sie ihn als Ihren Reisegefährten am Bord des Packetschiffs, oder können Sie uns Etwas von seiner Unterhaltung mit Ihrer Tochter sagen?“

      „Nein, Sir, weder das Eine noch das Andere.“

      „Ist ein eigenthümlicher und besonderer Grund vorhanden, daß Sie Keines von Beiden thun können?“

      Er gab mit gedämpfter Stimme zur Antwort. „Ja.“

      „Sie haben das Unglück gehabt, in Ihrem Vaterlande ohne Proceß und sogar ohne Anklage eine lange Haft zu erleiden, Dr. Manette?“

      Er antwortete in einem Tone, der Jedem zu Herzen ging. „Eine lange Haft.“

      „Sie waren zu jener Zeit erst vor Kurzem frei geworden?“

      „Das sagt man mir.“

      „Können Sie sich aus jener Zeit an gar Nichts erinnern?“

      „Nein. Mein Gedächtniß ist wie verschwunden von einem Zeitpunkt an — ich kann nicht einmal sagen, welcher Zeitpunkt das war, wo ich mich in meiner Gefangenschaft mit dem Verfertigen von Schuhen beschäftigte, bis zu der Zeit, wo ich mich in London mit meiner guten Tochter hier wiederfand. Sie war mir vertraut geworden, als ein gnädiger Gott mir die Kräfte meines Geistes wiedergab; aber ich bin sogar außer Stande zu sagen, wie sie mir vertraut geworden ist. Ich kann mich durchaus nicht besinnen, wie es gegangen ist.“

      Der Generalanwalt setzte sich nieder und Vater und Tochter nahmen ebenfalls wieder Platz.

      Ein merkwürdiger Zwischenfall trat jetzt ein. Das Ziel der Beweisführung war, zu zeigen, daß der Angeklagte mit einem noch unbekannten Mitschuldigen in jener Freitag-Nacht im November vor fünf Jahren mit der Dover Postkutsche gereist und, um Entdeckung zu vermeiden, des Nachts an einem Orte ausgestiegen sei, wo er nicht geblieben, sondern von wo er einige Dutzend Meilen nach einer Garnisons- und Hafenstadt zurückgereist sei, und daß er dort Erkundigungen eingezogen habe. Ein Zeuge war da, welcher ihn zu der erforderlichen Stunde im Frühstückszimmer eines Gasthauses in dieser Garnisons- und Hafenstadt, wo er auf Jemanden wartete, gesehen haben wollte. Die Kreuzfragen des Vertheidigers des Angeklagten lockten keine andern Antworten hervor, als daß er den Angeklagten nie bei einer andern Gelegenheit gesehen, als der Herr in der Perrücke, der die ganze Zeit über die Decke des Saales angesehen hatte, ein oder zwei Worte auf ein Zettelchen schrieb, es zusammendrehte und dem Vertheidiger hinüberwarf. Dieser wickelte das Zettelchen in der nächsten Pause aus einander und betrachtete den Angeklagten mit großer Aufmerksamkeit und Neugier.

       Die Aehnlichkeit.

      „Sie bleiben also dabei, daß Sie ganz sicher sind, daß es der Angeschuldigte gewesen?“

      Der Zeuge war seiner Sache ganz gewiß.

      „Haben Sie jemals Jemanden gesehen, der dem Angeklagten sehr ähnlich sah?“

      Nicht so ähnlich, sagte der Zeuge, daß er sie hätte verwechseln können.

      „Sehen Sie sich genau jenen Herrn an, meinem gelehrten Freund gegenüber,“ sagte er, indem er auf Denjenigen deutete, der ihm das Zettelchen zugeworfen hatte, „und dann sehen Sie sich den Angeschuldigten genau an. Was sagen Sie nun? Sehen sie sich einander sehr ähnlich?“

      Wenn man abzieht, daß der gelehrte Freund vernachlässigt und verliederlicht, wenn nicht gar etwas verlumpt aussah, so waren sie allerdings einander ähnlich genug, um nicht nur den Zeugen, sondern auch alle


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