Zwei Städte. Charles Dickens

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Zwei Städte - Charles Dickens


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durch das unsaubere Gedränge mit der Geschicklichkeit eines Mannes, der gewohnt ist, ohne Aufsehen zu machen vorwärts zu kommen, fand die Thüre, welche er suchte und gab durch eine Klappe in derselben seinen Brief hinein. Denn damals bezahlten die Leute, um das Schauspiel in Old Bailey zu sehen, gerade wie sie bezahlten, um das Schauspiel in Bedlam zu sehen — nur daß die erstere Unterhaltung viel theurer zu stehen kam. Deshalb waren alle Thüren von Old Bailey gut bewacht, mit einziger Ausnahme der gefälligen Thüren, durch welche die Gesellschaft die Verbrecher hinein ließ, denn diese standen immer weit offen.

      Nach einigen Worten und Besinnen ging die Thüre widerwillig ein ganz klein Wenig auf und erlaubte Mr. Jerry Cruncher, sich in den Gerichtssaal hineinzuquetschen.

      „Was ist dran?“ fragte er flüsternd den Mann, der sein Nachbar geworden war.

      „Noch Nichts.“

      „Was kommt dran?“

      „Der Hochverrath.“

      „Der zum Viertheilen, he?“

      „Jawohl,“ entgegnete der Mann mit Gusto; „er wird auf einer Hürde hinausgeschleift, um halb gehängt zu werden und dann wird man ihn abschneiden und vor seinen eigenen Augen aufschlitzen und dann wird man seine Eingeweide herausnehmen und verbrennen, während er zusieht und dann wird man ihm den Kopf abhacken und sein Rumpf wird geviertheilt. So lautet das Urtheil.“

      „Wenn sie ihn schuldig finden, wollt Ihr sagen?“ setzte Jerry als Vorbehalt hinzu.

      „O! Sie werden ihn schuldig finden,“ sagte der Andere. „Da braucht Ihr nicht zu sorgen.“

      Mr. Crunchers Aufmerksamkeit zog jetzt der Thürsteher auf sich, der mit dem Billet in der Hand auf Mr. Lorry zuging. Mr. Lorry saß an einem Tisch unter den Herren in den Perrücken, nicht weit von einem Herrn in der Perrücke, dem Vertheidiger des Angeklagten, der einen großen Stoß Papiere vor sich hatte und fast gerade gegenüber einem andern Herrn in der Perrücke, der beide Hände in den Hosentaschen hatte und dessen ganze Aufmerksamkeit, wenn Mr. Cruncher ihn jetzt oder später anblickte, von der Decke des Gerichtssaals in Anspruch genommen zu sein schien. Nachdem Jerry einigemal mürrisch gehustet und sich das Kinn gerieben und Zeichen mit der Hand gemacht hatte, zog er die Beobachtung Mr. Lorry’s auf sich, der aufgestanden war, um sich nach ihm umzusehen und ihm ruhig zunickte und sich wieder setzte.

      „Was hat der in der Sache zu thun?“ fragte der Mann, mit dem er gesprochen hatte.

      „Das weiß ich nicht,“ sagte Jerry.

      „Und was habt Ihr dabei zu thun, wenn man fragen darf?“

      „Das weiß ich auch nicht,“ sagte Jerry.

      Der Eintritt des Richters und eine darauf folgende große Bewegung und allmäliges Beruhigen im Gerichtssaal unterbrachen das Zwiegespräch. Im nächsten Augenblick wurde die Angeklagtenloge der Brennpunkt des allgemeinen Interesses. Zwei Schließer, die dort gestanden hatten, gingen hinaus und der Gefangene wurde hereingebracht und vor seine Richter gestellt.

      Alle Anwesenden, mit Ausnahme des einen Herrn in der Perrücke, der sich die Decke betrachtete, hefteten neugierig ihre Augen auf ihn. All’ der menschliche Athem in dem Saale rollte auf ihn zu wie ein Meer, oder ein Wind, oder ein Feuer. Neugierige Gesichter sahen um Pfeiler und Ecken, um einen Blick auf ihn zu werfen. Zuschauer in den hinteren Räumen standen auf, um sich auch nicht ein Haar von ihm entgehen zu lassen; Leute, die in der Mitte des Saals standen, legten ihre Hände auf die Schultern der vor ihnen Stehenden, um sich auf irgend Jemandes Unkosten einen Anblick von dem Manne zu verschaffen — stellten sich auf die Zehenspitzen, stiegen auf Simse, standen auf fast Nichts, um jeden Zoll von ihm zu sehen. Besonders bemerklich unter diesen Letzteren machte sich Jerry, welcher aussah wie ein lebendig gewordenes Stück der mit eisernen Spitzen besetzten Mauer von Newgate. Er zielte nach dem Angeklagten mit dem biergeschwängerten Duft eines Trunkes, den er unterwegs zu sich genommen und hauchte ihn aus, daß er sich mit den Wellen andern Bieres und Gins und Thee’s und Kaffee’s und was sonst noch vermische, welche auf den Angeklagten zuflutheten und sich bereits in einem schmutzigen Nebel und Regen an den großen Fenstern hinter ihm brachen.

      Der Zielpunkt aller dieser neugierig stierenden und aufgeregten Blicke war ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, von hübschem Wuchs und hübschem Gesicht, mit sonnenverbrannten Wangen und dunklen Augen. Dem Stande nach war er ein Gentleman. Er war einfach schwarz oder sehr dunkel grau gekleidet, und sein langes und dunkles Haar war hinten im Nacken mit einem Bande zusammengebunden, mehr um nicht zu belästigen, als zur Zierde. Wie sich eine Gemüthsbewegung durch jede körperliche Umhüllung ausdrückt, so machte sich die Blässe, welche seine Lage rechtfertigte, durch das Braun seiner Wange erkennbar und zeigte, daß die Seele stärker war, als die Sonne. Im Uebrigen war er ganz unbefangen, er verbeugte sich vor dem Richter und blieb ruhig stehen.

      Die Theilnahme, mit welcher dieser Mann angestiert und angehaucht ward, machte der Menschheit keine Ehre. Wäre er von einem weniger entsetzlichen und grausenhaften Urtheil bedroht gewesen, — wäre eine Möglichkeit vorhanden gewesen, daß ihm eine einzige der Scheußlichkeiten desselben erspart worden wäre — so hätte er ebenso viel an Anziehungskraft verloren. Die Gestalt, die verurtheilt werden sollte, so gräßlich zerstückt zu werden, war der anziehende Anblick; das unsterbliche Wesen, das geschlachtet und zerfleischt werden sollte, rief die Aufregung hervor. Mit welchem Firniß auch die verschiedenen Zuschauer diese, jenachdem sie in der Selbsttäuschung geschickt waren, übertünchen mochten, im Grunde war es nur scheußliche Blutgier.

      Schweigen im Gerichtssaal! Charles Darnay hatte gestern „nicht schuldig“ eingewendet gegen eine Anklage, die ihn (mit endlosem unverständlichem Wortgeklingel) beschuldigte, ein falscher Verräther an unserm erlauchten, erhabenen, vortrefflichen u. s. w. Fürsten, unserm Herrn, dem König, zu sein, indem er bei verschiedenen Gelegenheiten und durch verschiedene Mittel und Wege Ludwig, König von Frankreich, in seinen Kriegen gegen unsern gedachten erlauchten, erhabenen, vortrefflichen u. s. w. Fürsten, unsern Herrn, den König, Beistand geleistet; indem er nämlich zwischen den Besitzungen unseres gedachten erlauchten, erhabenen, vortrefflichen u. s. w. Fürsten, unseres Herrn, des Königs und denen des gedachten Ludwigs von Frankreich hin- und hergereist, und boshafter, hinterlistiger, verrätherischer Weise (und noch mit andern bösen Adverbien) dem gedachten Ludwig von Frankreich verrathen habe, welche Streitkräfte unser gedachter erlauchter, erhabener, vortrefflicher u. s. w. Fürst, unser Herr, der König, für Canada und Nordamerika auszurüsten im Begriff stehe. Soviel verstand Jerry, dessen Haar immer spitzer empor stieg, wie die juristischen Worte sich häuften, zu seiner ungeheuren Befriedigung, und er kam so allmälig zu dem Verständniß, daß der vorgenannte und wieder und wieder vorgenannte Charles Darnay dort vor ihm stand, um sein Urtheil zu empfangen; daß die Geschwornen vereidigt wurden; und daß der Herr Generalanwalt sich bereit machte, zu sprechen.

      Der Angeklagte, der im Geiste von jedem Einzelnen der Anwesenden gehängt, geköpft und geviertheilt wurde und sich Alles recht wohl bewußt war, ließ sich weder von dieser Umgebung einschüchtern, noch trat er ihr mit einer theatralischen Miene entgegen. Er war ruhig und aufmerksam; beobachtete die einleitenden Verhandlungen mit ernstem Interesse und ließ seine Hände auf dem Bret vor sich so gefaßt ruhen, daß sie auch nicht ein Blättchen von den Kräutern, mit denen es bestreut war, von der Stelle rückten. Ueberhaupt war der ganze Saal mit Kräutern bestreut und mit Essig besprengt, als Schutzmittel gegen Kerkerluft und Kerkerfieber.

      Ueber dem Haupte des Angeklagten hing ein Spiegel, um das Licht auf ihn herabzuwerfen. Eine Unzahl von Verworfenen und Unglücklichen hatten ihr Bild darin gesehen und waren von seiner Oberfläche und von der Erde verschwunden. Von welch einer gräßlichen Gespensterschaar müßte dieser Saal heimgesucht sein, wenn der Spiegel die Bilder, die er auf seiner glatten Fläche gezeigt, jemals zurückgeben wollte, wie das Meer seine Todten wieder von sich giebt. Ein flüchtiger Gedanke an die Ehrlosigkeit und die Schmach, die das Glas widergespiegelt, mochte dem Angeklagten in den Sinn kommen. Wie dem immer sein möge, eine Veränderung seiner Stellung ließ ihn gewahr werden, daß ein Streifen Licht auf sein Gesicht falle und er blickte in die Höhe, und als er den Spiegel sah, röthete sich sein Gesicht und seine rechte Hand schob die Kräuter weg.

      Dabei


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