Demenz in der Lebensmitte. Hanns Sedlmayr
Читать онлайн книгу.aber fest.
Zusammen mit meiner Schwester und meinem Schwager besuchen wir ein Konzert der Jazzsängerin Ella Fitzgerald. Fides ist sehr scheu, kommt zu spät und steht am Ende des Konzerts auf und geht, ohne meine Schwester und meinen Schwager zu begrüßen. Ich bin vom Konzert hingerissen. Sie bleibt kühl. Von Ella nicht berührt zu sein, ist mir unverständlich. Immer wieder bringe ich das Gespräch auf dieses Konzert. Es bleibt dabei. Sie mag Ella nicht.
Es ist nur ein kurzer Weg von ihrer Wohnung zu einem Wirtshaus in der Au, in dem sonntags am Nachmittag Jazz gespielt wird. Die Musiker und der überwiegende Teil der Besucher sind amerikanische, meist schwarze Soldaten. Fides mag die Atmosphäre, bleibt aber auch hier unberührt von der Musik.
Es macht ihr aber großen Spaß zu beobachten, wie sich die einsamen amerikanischen Soldaten etwas vom Duft und der Nähe der anwesenden Damen holen.
Das geht so: Vor der Damentoilette bilden sie eine enge tief gestaffelte Reihe. Wenn eine Dame die Toilette aufsucht und sich einer Lücke in ihren Reihen nähert, wechseln sie, unter dem Vorwand nur auf die Musik zu achten, blitzschnell ihren Platz, so dass sie mit den Damen in Körperkontakt kommen.
Als Fides die Toilette aufsucht und sich durch die erste Reihe zwängt, beobachte ich, wie die Soldaten hinten noch eine neue Reihe anfügen. Sie kommt jedes Mal lachend aus der Toilette.
Zusammen mit Schelly, das ist ihre die beste Freundin, gehen wir groß aus in das angesagte Nachtlokal Tabu. Wir treffen uns am Marienplatz und gehen zu Fuß. Der Weg zum Tabu, in einer Seitenstraße zur Leopoldstraße, ist sehr geradlinig. Fides besteht aber auf einem Zickzackkurs. An den unmöglichsten Stellen will sie abbiegen. Sie sagt dann: „Crossen wir hier“.“ Das ist nicht als Frage, sondern als Aufforderung gemeint. Schelly und ich folgen etwas missmutig diesen Anweisungen.
Trotz aller Umwege kommen wir schließlich im Tabu an.
Schelly ist ein großes und selbstsicheres Mädchen. Nicht hübsch, aber sympathisch. Der Vater betreibt eine Fabrik für Aufzugsanlagen.
Ich tanze abwechselnd mit beiden Mädchen. Wenn ich mit Schelly tanze, wird Fides sofort von einem anderen Herrn geholt. Wenn ich mit Fides tanze, bleibt Schelly immer sitzen.
Einige Zeit später erscheint Fabian. Sehr herzlich begrüßt von beiden Mädchen. Er tanzt nur mit Fides. Ich tanze etwas verkrampft mit Schelly.
Das Tabu schließt um 3 Uhr. Um 2 Uhr flüstert mir Fides zu, sie würde mit Fabian gehen, um dessen Auto zu holen. Er wäre mit dem Motorrad da. Sie kämen aber zurück. Sie fragt noch: „Bist du jetzt böse?“
Ich tanze weiter etwas verkrampft mit Schelly und tue so, als ob es mir nichts ausmacht, dass sie mit Fabian verschwindet.
Die Unterhaltung mit Schelly kommt nicht wirklich in Fluss.
Pünktlich um 3 Uhr hört die Kapelle auf zu spielen. Ich gehe mit Schelly zum Ausgang. Fides steht zusammen mit Fabian auf der Straße vor dessen eleganter Limousine.
Fabian fährt zuerst Schelly nach Hause, sie wohnt in Freimann, dann Fides, das ist in der Gegenrichtung. Am Odeons-Platz lässt er mich aussteigen. Beim Aussteigen versucht Fides nett zu mir zu sein, und wispert mir zu: „Ich ruf dich an.“ Sie winkt mir fröhlich zu, als Fabian wieder losbraust.
Es ist noch ein langer Weg zu meinem Zimmer. Ich bin gekränkt. Sie hat Fabian den Vorzug gegeben. Ich bin in die zweite Reihe ihrer Verehrer abgerutscht.
Ich gestehe mir aber ein, dass sie auch heute Abend einfach hinreißend aussah. Sie hatte ein sehr mädchenhaftes, dunkelblaues Kleid an, mit einem weißen Kragen, weißen Knöpfen und einem weißen Besatz an den Ärmelenden. Ihre Haare trug sie an diesem Abend offen. Sie fallen ihr lange über die Schulter. Seit ein paar Tagen hat sie ihre Haare hellblond gefärbt. Wenn Sie am Tisch saß, rutschte ihr kurzes Kleid nach oben und ihre Beine waren in voller Länge sichtbar. Es ist ein warmer Sommerabend und sie hatte keine Strümpfe an. Besonders reizvoll ist ihr Busen, der sich deutlich unter dem hochgeschlossenen Kleid abzeichnet. Sie wird von allen Männern, denen wir an diesem Abend begegnen, mit bewundernden Blicken beäugt.
Sie hat an diesem Abend mit mir gespielt. Sie kann mich sehr verletzen.
Fabians komfortable Limousine ist zum Schmusen viel geeigneter als die leeren Marktstände, die ich immer mit ihr aufsuche. Ich bin sicher, dass gerade jetzt Fabian in einer dunklen Straße anhält und Fides küsst. Ich schlafe nicht in dieser Nacht.
Am Morgen beschließe ich, sie nicht mehr um eine Verabredung zu bitten. Sie ist in Fabian verliebt.
Sie ruft aber, wie versprochen, an und wir verabreden uns für den nächsten Mittwoch. Meine Zuneigung zu Fides schwächt sich ab. Der Flirt mit Fabian wirkt nach. Ich interessiere mich sogar für ein anderes Mädchen.
Mein Freund Franz gibt eine Party. Er wohnt in einem Vorort. Auf der Anreise wirft Fides mir vor, in meinem Freundeskreis über sie zu sprechen und zu verbreiten, sie hätte eine pessimistische Lebenseinstellung angenommen. Udo, der Freund ihrer Schwester, hätte maßgeblich dazu beigetragen.
Ich bin beschämt über meine Schwatzhaftigkeit. Ich sprach mit meinem Freund Hans Schuster über sie und brachte diese Bedenken zum Ausdruck. Fides erfuhr schon vor Wochen von diesem Gespräch. Sie muss meine Schwatzhaftigkeit als einen Vertrauensbruch empfunden haben.
Sie verhielt sich großzügig und traf sich trotz dieser Kränkung mit mir.
Sie sagt, sie sei überzeugt, dass ich vor allem ihr Äußeres mögen würde, nicht aber ihr inneres Wesen. Sie wirft mir vor, oberflächlich und kleinlich zu sein. Als Beweis führt sie meine Schwatzhaftigkeit über ihr Weltbild und mein voreiliges Urteil über den Freund ihrer Schwester an.
Ich hatte den Freund ihrer Schwester als jemand geschildert, der nur den naturwissenschaftlich geschulten Intellektuellen gelten lässt und den ganzen Rest der Menschheit und ganz besonders alle Geisteswissenschaftler verachtet.
Sie sagt:
„Ich fühle mich zu einer pessimistischen Einstellung hingezogen. Jedes Nachdenken über das menschliche Leben muss zwangsläufig zu einer pessimistischen Einstellung führen. Es sind die nachdenklichen Menschen, die pessimistisch über das Leben denken. Menschen, mit einer optimistischen Einstellung zum Leben, sind die, die nicht nachdenken.“
Sie führt Schriftsteller wie Sartre oder Camus für eine pessimistische Grundeinstellung an und fährt fort:
„In einer Welt in der Abscheulichkeiten passieren, wie die Ermordung der Juden durch uns Deutsche oder die Ermordung von Frauen und Kindern in Vietnam durch die Amerikaner, ist eine optimistische Einstellung zum Leben purer Provinzialismus.“
Mir unterstellt sie eine Einstellung, nach der sich letztlich doch alles zum Guten wendet. Diese Einstellung hält sie für naiv und durch die Entwicklung der Menschheit widerlegt.
Am Ende schwächt sie ihre Aussage über den Provinzialismus, den sie mir unterstellt, etwas ab, indem sie sich selbst auch der Oberflächlichkeit bezichtigt.
Sie sagt von sich, sie wäre viel zu phlegmatisch, um gründlich über intellektuelle Dinge nachzudenken.
Der Vorwurf des Provinzlers trifft mich hart. Ich versuche, mit allerlei Argumenten zu parieren, merke aber, dass diese Argumente nicht überzeugen.
Als ich sage, dass Pessimismus ein Zustand ist, der überwunden werden muss und letztlich zur Reife führt, bittet sie mich aufzuhören. Sie könne so einen Unsinn nicht ertragen.
Ich bin sehr berührt von der Ernsthaftigkeit ihrer Ausführungen. Ich sah mich in unserer Beziehung als den Intellektuellen und sie als die Schöne.
Mir wird klar, dass das ein Irrtum ist. Sie ist die Reifere. Ich bin der Unreife. Ich schwanke in meinen Ansichten, je nach der Lektüre, die ich gerade lese.
Auf der Party ist sie arrogant zu meinen Provinzler-Freunden.
Meine Zuneigung wächst wieder. Die Erkenntnis, dass sie ihre Einstellung zum Leben so trefflich und knapp begründen kann, flößt mir Respekt ein.
Fides mag keine weltanschaulichen Gespräche. Künftig meiden wir dieses Thema. Sie hat ihre Einstellung begründet.