Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke

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Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens - Helmut Lauschke


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Ziegen hemmungslos das letzte Grün von den Sträuchern rissen und sämtliche Zweige und erreichbaren Äste kahl fraßen. Die Räder schlugen in die Schlaglöcher ein, dass es im Fahrgestell knirschte. Es wurde in enge Seitenwege eingebogen, in denen sich schlangenförmig ausgefahrene Spurrinnen mit ausgewaschenen Schlaglöchern abwechselten. Die erste Besichtigung der Siedlungssituation mit den eng aneinander gereihten, durchlöcherten, mit Tuchfetzen zugehängten und von Pappen und Töpfen zugestellten Unterkünften ging unter die Haut. Da gab es nur magere und nackte Kinder, die aus großen Augen blickten. Das Bild des Elends, hier war es komplett. Noch nie hatte Dr. Ferdinand Menschen so trostlos und verwahrlost gesehen. Er fragte sich beim Anblick der Kinder, denen der Tod näher war als das Leben, ob es da in den Herzen noch Hoffnung gab. Er saß zurückgelehnt und sprachlos im Auto und dachte über das Gespräch mit Herrn C. über die Ansichten eines Buren über Gegenwart und Gesellschaft nach.

      Beide waren erleichtert, als sie von den Bewohnern der „Lokasie“ erfuhren, dass die Granate außerhalb eingeschlagen war, wo sie einen Kraal mit schlafenden Ziegen begrub. So fuhren sie im Abendlicht, denn die Wolken des frühen Nachmittags hatten sich verzogen, dem Rest des Sonnenuntergangs entgegen. Mächtig glühten die Strahlen, die aus dem Jenseits des Horizonts auftauchten und in breiten Fächern den Himmel durchzogen, ihn noch vor Tagesende mit dem roten Meer des Blutes tränkten. Sie fuhren noch einmal zum Camp zurück, wo die Erkundung begonnen hatte. Dort waren mittlerweile die Aufräumungsarbeiten so gut wie abgeschlossen. Der Einschlagstrichter war aufgefüllt und die Zugangsstraße wieder befahrbar. Dann fuhren sie zum Haus zurück. Dr. Ferdinand schob das Tor zu und ließ den Riegel ins Schloss fallen. Dr. Witthuhn ging ins Haus. Er hatte sich aus der Kantine des Camps eine Zwölferpackung Dumpies der Marke „Guinness“ beschafft, die er aus dem Kofferraum holte und in die Küche trug. Er öffnete die Packung, nahm sich eine Flasche, trank sie halb leer, öffnete eine zweite, drückte sie Dr. Ferdinand in die linke Hand, sagte „Prost!“ und trank seine Flasche aus. Er drückte die Hoffnung aus, dass der Abend ruhig und die Nacht noch ruhiger sein mögen. Dann besetzte er die Toilette. Dr. Ferdinand ging ins Wohnzimmer, stellte die Flasche auf den Tisch, zog das zweite Brandenburgische Konzert als sechste Platte aus dem Elferstapel und legte sie auf. Er lehnte sich in dem gefleckten Polsterstuhl zurück, zündete die drittletzte Zigarette an, sah auf die halb geleerte Flasche, ohne sie leeren zu wollen, und hörte zu, was Papa Bach mit kontrapunktischer Strenge aus seiner Zeit zu erzählen hatte, wie das Leben der Menschen damals war. Er kniete im Glauben und schlug mit der Faust auf den Tisch, wenn ihm die Heimkinder der Thomasschule, statt die lateinischen Aufgaben zu machen, ein sächsisches Schnippchen drehten. Es war der Organist und Heimleiter Bach, von dem der spätere Gigant Beethoven sagte, dass er aufgrund seiner großartigen Musik einen größeren Namen als nur Bach verdient hätte. Dennoch, als seine Söhne Friedemann, Philipp Emanuel und Michael ohne des Vaters Gedankenschärfe mit viel weniger Polyphonie ihre rühmlichen Gratwanderungen machten, verschwand die Fugenmusik mitsamt dem großen Fugenmeister in den Tiefen der Vergessenheit, wo sie fast verloren gegangen wären, wenn es den jungen und genialen Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig nicht gegeben hätte, der das große Werk des Thomaskantors und Heimleiters der Thomasschule aus der Gruft holte und neu einspielte. Nur so blieb Papa Bach am Leben, dessen „geringen“ Namen der noch junge Felix zum Ruhm der Unsterblichkeit erhob. Dr. Ferdinand betrachtete die schief hängenden Reproduktionen deutscher und französischer Expressionisten und hörte sich das barocke Leben auf den Fugenstufen einer feudalen Treppe an, neben der der große Brunnen des Unerschöpflichen, des immer Neuen stand. Das brachte ihn gedanklich zum „panta rhei“ des Philosophen Heraklit, bei dem alles permanent im Fließen war, der als Mensch schwierig, weil cholerisch war und nach dem Niederbrand des Artemistempels in Ephesus zurückgezogen lebte. Dr. Ferdinand drückte die Zigarette auf der Untertasse aus, stand beim zweiten, langsamen Satz auf, rückte die Expressionisten in eine galeriegerechte Stellung, betrachtete sie von rechts nach links, dachte über das miserable Leben eines Toulouse-Lautrec und Vincent van Gogh nach und setzte sich erst mit dem Ende des zweiten Satzes aus dem zweiten Brandenburgischen Konzert in seinen Stuhl zurück.

      Was war geschehen? Nichts, das für Dr. Ferdinand die Note „ausgezeichnet“, wohl aber die Note „unbefriedigend bis ungewöhnlich“ verdient hätte. Das nicht nur aus Gründen, die ihn persönlich betrafen, wie der Fortgang aus Deutschland und seine Begleitumstände, oder das Warten auf die Arbeitserlaubnis aus Pretoria und vieles andere mehr. Die eigentlichen Gründe für sein Niedergedrücktsein waren die Menschen, die er so elendig und verwahrlost in der „Lokasie“ leben sah. Da hatte die Armut nichts zurückgelassen, was man Zivilisation oder Kultur nennen konnte. Da war alles platt gedrückt und bis ins Letzte unkenntlich gemacht. Die Eigensucht der Weißen hatte den Schwarzen böse mitgespielt und ihnen den weißen Strich durchs schwarze Leben gezogen. Gegen solche Brutalität waren sie machtlos und wurden von der ihnen aufgesetzten Krebsgeschwulst zerfressen. Dort schlug die Ohnmacht in die Augen, von menschlicher Würde gab es keine Spur. Das Leben stand am Abgrund, wo es in der Tiefe nur die Fäulnis gab. Die Visionslosigkeit war erschütternd. Ethisch und moralisch war so ein Leben gar nicht zu verstehen. Für die Gedanken der Aufklärung fehlte jeglicher Anknüpfungspunkt, weil das Leben unmenschlich war, das hier in Armut und gesundheitsschädlichen Abfällen verkam. Die Schwarzen in der „Lokasie“ zahlten mit der erbärmlichen Kümmerlichkeit ihres nackten Lebens den Wohlstand der Weißen. Da blickte Dr. Ferdinand auf das Europa des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, wo mit dem aufkommenden Wohlstand die Gesellschaft verfettete und alles andere verkümmerte, das Geistige wie Spirituelle, die Mitmenschlichkeit wie die Nächstenliebe. Der Blick war der Blick in den Spiegel, das Interesse galt nur sich selbst. Den anderen nahm man nicht mehr zur Kenntnis, egal wie schlecht es ihm ging. Der Unwille zur Besserung hat die Menschen schwach gemacht, sie mit Blindheit und Gehörlosigkeit geschlagen. Die Antennen waren abgebrochen, die sensiblen Organe zu verrostet und verkrustet, um den Aufschrei der Hungernden und Gefolterten zu hören. Der Verstand war ausgeschaltet und damit die Vernunft, nach den Prinzipien der Mitverantwortung zu leben, die nicht vom Tisch zu wischen war. So war es in Europa, doch viel schlimmer war es hier. Da schwirrte ihm der Adler durch den Kopf, der auf die hilflose Beute stürzt, als er das eben Gesehene auf den neuesten Stand seiner Erfahrung brachte und mit größter Zurückhaltung mit der Note „unbefriedigend bis ungewöhnlich“ versah, was in Wirklichkeit entsetzlich war. So ließ ihn die Beurteilung des Gesehenen nicht ruhen, weil ihn die Milde des Wortes „unbefriedigend“ durch die Abstraktion vom tatsächlichen Bild mit der Entwürdigung des Menschen irritierte. Es gab Fragen über Fragen nach dem Warum, die auf eine Antwort warteten. Das andere Benotungswort „ungewöhnlich“ ärgerte ihn dagegen heftig, er wollte es so nicht stehen lassen, musste es aber tun, weil sich die Menschen in der „Lokasie“ an die höchst ungewöhnlichen Wohn- und Lebensbedingungen längst gewöhnt hatten. Sie kamen aus dem Elend, der Verwahrlosung und der totalen Trostlosigkeit mit eigener Kraft nicht heraus, und mit einer weißen Hilfe konnten sie nicht rechnen, weil es die Weißen waren, die sie ins schwarze Elend gebracht hatten und dort verkommen ließen. Die, die helfen konnten und helfen sollten, stellten sich blind und ihre Ohren auf Durchzug. Dr. Ferdinand wäre bei der Beurteilung der Lage mit der Note „verheerend bis tot“ einverstanden gewesen, doch befürchtete er, dass ihn die Mitmenschen missverstehen und ihn für einen unverbesserlichen Pessimisten halten würden, was er eben nicht sein, vielmehr den Menschen als Arzt helfen wollte. Die Musik hörte sich da anders an, die den Gefühlen viel näher kam, als es die Worte schafften. Bach und Berlioz oder Beethoven, Mozart und die späteren Romantiker drückten sich da nicht so negativ aus. Sie hatten das Leben in einer „Lokasie“ aber auch nicht gesehen.

      Ferdinand holte sich die zweite Flasche „Guinness“ und zündete die vorletzte Zigarette an, während Dr. Witthuhn sich zu einem Nickerchen zurückgezogen hatte. Es war bereits spät am Abend. Der Magen knurrte, doch war kein Brot da, und eine Wurst, die Dr. Ferdinand auch gerne ohne Brot gegessen hätte, war weder im Eisschrank noch sonst wo zu finden. So übte er sich in Selbstdisziplin, es war ja nicht das erste Mal, dass er die Sprache des Magens ignorierte, auch wenn er immer frecher zurückknurrte. Die Absicht, Disziplin zu üben, musste er jedoch durch die Tatsache ins rechte Licht rücken, dass es einfach nichts zu essen gab, und dass „Guinness“ und Zigarette mit einer asketischen Disziplin gar nichts am Hut hatten. Auf dem Boden dieser Tatsachen musste er sich zurechtfinden. Es gingen ihm Gedanken durch den Kopf, die ihn auch an bessere Zeiten erinnerten. Dass der Magen dabei


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