Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.einen solchen Arzt vor Ort tätig werden zu lassen, und der bescheidene Teilerfolg, als „Medical officer“ wie die jungen, uniformtragenden Ärzte am Hospital und ausschließlich an diesem zu arbeiten, veranlasste Dr. Ferdinand, sein Leben zu überdenken und die weiteren Überlegungen mit dem Herumblättern in den Büchern der Bibliothek zu verbinden. Unterdessen wollte Dr. Witthuhn die Bantu-Administration von dem Telefonat unterrichten und dafür sorgen, dass die nötigen technisch-bürokratischen Maßnahmen unverzüglich getroffen werden, um eine weitere Verzögerung zu vermeiden.
„Afrika, wie es lebt und leidet“, dachte Dr. Ferdinand, als er das Büro verließ und auf dem Weg zur Bibliothek an tuchverhängten Fenstern vorbeiging, die dicht aneinander gereiht in dünne Asbestwände eingelassen waren, welche den Faustschlag mit einem dumpfen Hohlklang schluckten. Die Fenster, auf denen das Licht der hoch stehenden Sonne lag, wiesen innen solide Schmierschichten von herumgefahrenen Fingern auf. Die Tücher hinter den Fenstern waren längst vergilbt, zerrissen und dreckig, so dass die ursprünglichen Farben und Muster nur noch an den Rändern auszumachen waren. Nachdem er sieben Fenster passiert hatte, bog er im rechten Winkel nach links und nach weiteren dreißig Metern vor dem weit geöffneten Eingang zur Teeküche der Kantine nach rechts. Im Gang vor der Teeküche stand gegen den linken Türflügel gelehnt, dessen Glasfüllung eingedrückt und von Rissen durchzogen war, ein in Afrikaans freundlich grüßender Ovambo mittleren Alters im weißen Küchendress, dem auf dem Rücken zwei handflächengroße, braune Flecken saßen und über dem rechten Gesäß und der Vorderseite des linken Hosenbeins über dem Knie ebenso große Flicken aufgenäht waren. Es war zehn nach zwölf, die Zeit, zu der er beide Türflügel weit geöffnet hielt, und auf den „Silberwagen“ wartete, den sein Kollege mit gefüllten Schüsseln und Töpfen von der Hauptküche auf dem betonierten Gang heranrollte. Nachdem man diesen über die stählerne Schwellenleiste gehievt hatte, wobei es kräftige Schläge gegen die Laufrollen gab, verschwand der sperrige „Silberwagen“ in der Teeküche, und die Türen wurden geschlossen. Dr. Ferdinand war nicht nach Essen zumute. Er lief um das Kantinengebäude herum und stand kurz darauf vor der verschlossenen Tür zur Bibliothek. „Auch das ist Afrika“, dachte er. Während er für Minuten vor der verschlossenen Tür stand und es gelassen hinnahm, dass sie sich trotz mehrmaligen Klopfens nicht öffnete, befiel ihn die dunkle Befürchtung, dass mannigfaltige Probleme, die mit seiner Person zusammenhingen, nicht nur zu erwarten, sondern bereits vorprogrammiert waren. Es war ein Konglomerat von durcheinander laufenden Gedankenfäden, ein volvoxartiges Gebilde mit vielen Stacheln, deren spitze Enden mit dem Gift der bleibenden Lähmung überzogen waren. Das Stechen dieser Stachel war wie das Stechen der Anopheles, wenn sie die Plasmodien der Malaria überträgt, man merkte es zu spät. Das Gift der bleibenden Lähmung empfand er als drohende Gefahr. Doch was konnte er dagegen tun? Er dachte in diesem Zusammenhang an die jagenden Buschmänner, die aus dem getarnten Hinterhalt mit sicherer Hand den Bogen mit dem gifttragenden Pfeil so lange gespannt halten, bis der richtige Augenblick gekommen ist, in dem sie den Pfeil nach mehrtausendjähriger Übung so präzise abschießen, dass er das ahnungslose Wild nicht verfehlt und es mit der tief eindringenden, vergifteten Pfeilspitze in seiner Atmung lähmt und tötet. Dr. Ferdinand kam bei der Betrachtung vor der verschlossenen Bibliothekstür nicht umhin, seine persönlichen Probleme im größeren Zusammenhang zu sehen und die Punkte des Anstoßes im politischen Karussell eines anachronistisch verklemmten Systems zu suchen, in dem es das Syndrom der verkennenden Anmaßung gab, die zur blinden Uneinsichtigkeit und hartnäckigen Gehörlosigkeit, zum dahinsiechenden Stumpfsinn und zur verzweifelten Sturheit mit flächendeckender Dummheit, wutschnaubender Arroganz und weiß gemachter Ignoranz geführt hat. Das Übel lag auf der Hand, doch die Zeichen des Systemverfalls waren unübersehbar. Das Absterben der weißen Ansprüche und Privilegien, die wie ein wachsender Tumor das gesunde Gesellschaftsgewebe verbraucht, ja aufgefressen hatten, war unaufhaltsam. Das System war verzerrt, angerissen, ermüdet und krank. Die Wenigen in den Sesseln der Macht hatten ihre Begierde überzogen, und sie erkannten es erst, als es zu spat und nichts mehr zu retten war. Dr. Ferdinand dachte an den schrittweisen Persönlichkeitsverfall bei der degenerativen Hirnerkrankung vom Typ Alzheimer, ein Vergleich, der aus neurologischer Sicht gar nicht so abwegig war. Und was war mit dem Krieg, der so viel Leid über die Menschen brachte? Er war moralisch nicht begründbar und politisch wie strategisch falsch. Das Konzept der Gewaltanwendung konnte noch nie ein Problem dauerhaft lösen. Es war überholt und anachronistisch zu dem, was die Zeit für die Menschen bereithielt, was ihnen mit der UN-Resolution 435 versprochen war und sich am Horizont immer deutlicher abzeichnete. Krieg war die Sprache jener, denen der Wille und die Worte zur Versöhnung fehlten, die mit ihrer Blindheit und den abgelatschten Reden keinen Hund mehr aus seiner Hütte hervorlockten. Krieg war die Sprachlosigkeit der wortfalschen Weißmacher, der strategisch das weiße Überleben in Komfort und Wohlstand bis ins Greisenalter eines Methusalem sicherstellen sollte. Dafür standen die Zeichen allerdings unter einem schlechten Stern, der kaum noch leuchtete und im Untergehen begriffen war. Keiner traute eigentlich diesem Stern noch viel zu. Was das System noch zu bieten hatte, waren Dinge, die mit einem gewollten Versäumnis und einem ungewollten Verfall zu tun hatten. „Kann es noch ein Zurück geben?“, fragte sich Dr. Ferdinand. Er kam nach längerem Nachdenken zum Nein, weil für ein Zurück der Schaden zu groß war, und ein Zurück in die alten Zustände ein noch größeres Unrecht, etwas ganz Schreckliches für die vielen Menschen gewesen wäre, die über Generationen zurückgestuft und bis zur völligen Entwürdigung erniedrigt waren. Dr. Ferdinand hatte sich in den drei Wochen davon überzeugen können, dass die Bevölkerung nicht nur ein großes Leid auf sich genommen hatte, dessen Ausmaß unbeschreiblich war, sondern dass sie trotz barbarischer Brutalität und vorgehaltener Pistole nicht einzuschüchtern war und den Freiheitsgeist lebendig hielt. Die Menschen wussten, dass man das System auch mit Waffengewalt und Verschleppung nicht mehr aufrechterhalten konnte. Wach und wachsam waren die Menschen, denn sie warteten lange genug auf das Ende der weißen Herrschaft. Die Schwarzen wollten, dass man sie wieder als Menschen achtete, die den Zugang zu den Schulen und Universitäten begehrten. Sie sprachen es aus: Intelligenz sollte entscheiden und nicht die Hautfarbe. Es überraschte die Menschen nicht, dass in der Phase der weißen Agonie alles nur Denkbare auf den Schreibtischen der systemkonformen, von Blindheit geschlagenen Subalternen ausgeheckt und mit den Oberen und Obersten abgesprochen wurde.
Da sich Pretoria das erste und das letzte Wort vorbehielt, war es so eingerichtet, dass in den viereckigen Pyramidenbauten der Subzentralen die Fenster in allen Etagen an der Pretoria zugewandten Südseite eingebaut waren, während nicht ein Fenster an dem spitz hochragenden, gleichschenkligen Dreieck der schrägen Nordwand dieser Pyramiden zu finden war. Diese Bauweise verbot eine direkte Einsichtnahme in die schwarz-weiße Problematik im hohen Norden, wo der Krieg nur einen Sieger kennt, nach dem sich die Zukunft richten sollte. Da war es architektonisch sichtbar, dass es für die Menschen an der Nordseite keine Türen und Fenster gab. Ihre Nöte wollte man auf diese Weise nicht zur Kenntnis nehmen. Die Politik wurde in den Verwaltungstürmen an den südlichen, den pretorianischen Fensterseiten ausgeheckt. Das weiße Auge vertrug die schwarzen Barfußgänger und ihre notdürftige Kleidung nicht. Man ließ diese Barfüßler nicht herein, egal, wie sehr die Not unter ihren Nägeln brannte. Ein weißes Achselzucken konnte es schon mal geben, wenn schwarze Menschen vor ihnen knieten und um Hilfe flehten. Umso besser waren die Südseiten eingerichtet und bestückt. Dort gab es die neuesten Gerätschaften, wie teleskopartig ausziehbare Weitsichtrohre, tellerartige Horchlöffel und Antennen, die die Wolken berührten, die alle miteinander durch ein Wirrwarr von Drähten und Kabeln verbunden waren und schließlich in einem seildicken Masterkabel zum Salonbüro in der obersten Etage der Pyramide führten und an einem Riesenbildschirm angeschlossen waren. Hier war es unbedingt ratsam, den einmalig weiten pretorianischen Höhenblick nicht zu verpassen. Die Südseite mit der Fensteranordnung eines Pascal’schen Dreiecks stellte somit eine Rund-um-die-Uhr-Verbindung mit der höchsten Machtzentrale in Pretoria sicher. Es war offizielle Weisung, wohin sich die Augen und Ohren der Subalternen zu richten hatten. So war die Annahme nicht verkehrt, dass in allen Büroetagen die Schreibtische so vor die Fenster gestellt waren, dass die Schreibtischtäter beim Vordenken den pretorianischen Blick nahmen, um ihre Sache fertig zu denken und das Ausgedachte beim erneuten Fensterblick zu überdenken. Die nächste Stufe war die Niederschrift des Gedachten und Überdachten, wobei sich beim Schreiberling die Kopfnickbewegung automatisch einschaltete, indem er im ständigen Wechsel den Kopf für den pretorianischen Südblick hob und wieder