Shana. Micha Rau
Читать онлайн книгу.„Was lachst du?“ Shana war sauer. „Ich hab mir von Carl den Entsperrungscode besorgt. Jetzt krieg ich alle Filme, die ich will!“
Irgendwo im Raum entstand Krissas Stimme, und wenn Shana den Visulator eingeschaltet hätte, hätte sie ihre Freundin auch sehen können, aber sie wollte nicht unbedingt, dass man sie in Unterwäsche erblicken konnte, zumal sie ihr knappstes Höschen und den gewagtesten BH anhatte.
„Dafür … dafür …“, gluckste Krissa, und man merkte ihr an, wie sie ihr Lachen krampfhaft zu unterdrücken versuchte, „… dafür wirst du gewaltigen Ärger mit deinen Eltern kriegen!“
„Das merken die nie!“, sagte Shana selbstsicher. „Aber warum lachst du eigentlich so blöd? Das ist doch nicht lustig! Wenn Belly die Filme ausgesucht hat, bringt der einen alten Western und Liebe zwischen den Welten mit, das kannst du vergessen! Nach dem Western hauen die Jungs ab. Und mit dem blöden Liebesquatsch kannst du mich jagen!“
Krissa lachte schallend. „Du kennst den Film doch gar nicht! Nun hab dich nicht so! Und außerdem hat unser Essenmacher deine Lieblingsschokokugeln gespeichert.“
Krissa lachte jetzt aus vollem Hals, und plötzlich war es Shana, als würde da noch jemand im Hintergrund lachen.
„Du schwindelst!“, entfuhr es ihr. „Gerade hast du gesagt, dass euer Essenscomputer keinen Nachtisch mehr hinkriegen kann! Sag mal, ist da noch jemand bei dir?“
„Ja“, lachte die andere Stimme. „Ich bin’s, Belly!“
Shana wurde heiß. Belly! Er hatte alles mit angehört! Jetzt würde er ganz schön sauer auf sie sein. Aber sie schien sich getäuscht zu haben, denn Belly und Krissa lachten um die Wette.
„Was zum Teufel ist denn da bei euch los? Seid ihr übergeschnappt?“
„Nein“, sagte Krissa zuckersüß. „Der BH steht dir super! Belly kriegt schon Stielaugen ...“
Shana hörte, wie die Verbindung abbrach. Mit einem Satz war sie beim Generalbedienteil ihrer Anlage, wo ihr ein hämisches Visual Broadcast On entgegenblinkte.
„Verdammt, verdammt, verdammt! Du blöde Multiwand! Ich hatte gesagt ohne Visualisierung!“
Shana wurde rot. Na, das konnte ja heiter werden. Belly hatte sie in BH und Höschen gesehen! Wenn sich das rumsprach, war sie geliefert. Sie ballte die Fäuste. Krissa hätte ihr doch sagen können, was los war!
„Na warte!“, murmelte sie wutentbrannt und war drauf und dran, der Multiwand einen kräftigen Tritt zu geben, als ihr Blick auf die kleine Öffnung fiel, die sich in ebendem Moment in der Wand bildete. Keine zwei Sekunden später schob sich eine kleine Schublade hervor, und in ihr lagen die Klamotten, die Shana aus der Merkliste des Modeprogramms hatte produzieren lassen. Schwarze Jeans, weiß-rosa gestreiftes Top, pfirsichfarbene Sneakers.
Shana griff sich das Top und hielt es anerkennend von sich.
„Sei bloß froh, du blöde Multiwand“, grunzte sie. „Wenn du das auch noch verbockt hättest, hätte ich dir den Stecker rausgezogen!“
*
Zwanzig Minuten später stand Shana fertig herausgeputzt in ihren neuen Klamotten wieder vor der Multiwand, in den Händen ein Tablett mit zwanzig Zitronenröllchen, im Gesicht einen Schmollmund und im Kopf bange Gedanken, ob Belly sie wohl ständig anstarren würde. Noch schlimmer, wenn Krissa alles aufgezeichnet und den anderen vorgespielt hatte, wie Shana halbnackt vor der Kamera stand …
„Egal, da musst du durch!“, murmelte Shana. „Multiwand! Beamer an! Ziel: Krissa!“
„Beamer an“, tönte es zurück. „Ziel Krissa eingestellt.“
Wo eben noch der Spiegel an der Wand hing, bildete sich nun ein schimmernder Rahmen. Der Umriss schien zu fließen, als ob silberfarbenes Wasser die Seiten bilden würde. Im Rahmen selbst waberte Nebel umher, ohne jedoch aus ihm herauszutreten.
Shana holte tief Luft. „Na denn!“
Sie tat zwei entschlossene Schritte, mit dem dritten durchdrang sie den Rahmen und tauchte in den Nebel ein. Augenblicke später waren ihre Umrisse verschwunden. Für einige Sekunden summte es noch hinter der Multiwand, ehe ein leises klick ertönte, der Nebel sich auflöste und der Rahmen verschwand. Zurück blieb eine weiße Wand, auf der sich lediglich das manuelle Bedienteil befand. Das gab es eigentlich nur für den Fall, wenn die Sprachsteuerung einmal ausfallen sollte. Aber die war eigentlich idiotensicher.
Als Shana aus dem Gegenstück des Beamers in Krissas Zimmer auftauchte, waren alle anderen schon da. Sobald sie wieder klar sehen konnte und registrierte, dass sie die Letzte war, musste sie kurz schlucken. Sie kam sich vor wie eine Delinquentin, die vor ihre Richter treten musste. Aber dann streckte sie sich und beschloss, lieber als Erste in die Offensive zu gehen.
„Hey, Happy Birthday, Krissa!“
Ihre Freundin kam ihr entgegen und nahm ihr das Tablett mit den Zitronenröllchen ab.
„Hi, Shana! Mein Geburtstag war vor zwei Wochen!“
„Ja, aber da hast du nicht gefeiert!“
Krissa lachte fröhlich, und Shana war heilfroh, dass sie keine blöde Bemerkung über ihren BH machte. Belly kam auf sie zu und hob die Hand. Shana schlug ein.
„Alles klar?“
„Alles klar! Ging mir lange nicht so gut! Die letzte Woche mit dem Lerncomputer war ätzend, aber das weißt du ja.“
Er blickte ihr lächelnd in die Augen. So sehr sie auch in den seinen forschte, konnte sie nicht sagen, ob er an das Bild von ihr dachte, was sich ihm vorhin dargeboten hatte. Sie beschloss, das Thema abzuhaken und dankte den beiden im Stillen.
Die anderen Gäste lümmelten in bequemen Sitzkissen herum. Shana klatschte jeden von ihnen ab und ließ sich dann in das letzte freie Kissen fallen.
Ihre Blicke tasteten ihre Freunde ab. So oft sahen sie sich nicht, denn in der Regel quatschte man über Videokonferenzen oder man traf sich allenfalls bei McBeam. Schließlich konnte man sich über die Projektoren im Zimmer des anderen abbilden lassen. Dann stand da zwar ein Trugbild, das all das plapperte, was sein Original im eigenen Zimmer von sich gab, aber jeder fand das cool. Außer Shana, die es liebte, ohne die Multiwand mit ihrer Freundin zu quatschen. Krissa war eigentlich die einzige, die das auch wollte und ihre eigene von Zeit zu Zeit abschaltete. Aber auch Krissa war ziemlich faul, gestand sich Shana ein. Wenigstens war sie nicht ganz so dick wie die anderen. Mit ihren dreizehn Jahren wog sie nur siebzig Kilo, und damit war sie in ihrer Klasse die Zweitleichteste.
Shanas Blick fiel auf Belly. Sie mochte ihn irgendwie. Er war immer schlagfertig, aber nicht frech. Er war ein guter Schüler, aber sich bewegen war absolut nicht seine Sache. Belly war nicht dick, er war fett. Shana seufzte. Schade, fand sie. Sie mochte die Schwabbelbäuche der anderen nicht, aber es war schwer, einen schlanken Menschen zu treffen. Und wenn es denn einen gab, der das Sportprogramm der Multiwand tatsächlich auch benutzte, dann war es meistens ein Angeber. Und die konnte Shana nicht ausstehen.
Krissa hatte sieben Gäste eingeladen, und alle waren aus ihrer Klasse. Shana wusste, dass sie weit auseinander wohnten, aber das spielte keine Rolle. Man hatte ja die Beamer. Das Schulministerium hatte sie nach ihren Charaktereigenschaften ausgewählt und eine zwanzigköpfige Klasse zusammengestellt. Man dachte, der Computer würde das besser hinkriegen als lebendige Lehrer, aber na ja … die Harmonie in der Klasse hielt sich in Grenzen. Wenn die zwanzig Kinder tatsächlich zur Schule gegangen wären und in einem Raum zusammen hätten sitzen müssen, es hätte wahrscheinlich jeden Tag eine Menge Zoff gegeben. So aber bestand der Unterricht in täglichen sechs Stunden dauernden Videokonferenzen, während deren die Köpfe der zwanzig Kinder und der jeweiligen Lehrer auf die Multiwand projiziert wurden, man aber beim Unterricht bequem im Bett liegen konnte, wenn man wollte. Shana wusste, dass ihre Großeltern noch in richtige Schulen mit Klassenräumen gegangen waren. Irgendwie wünschte sie sich, das auch tun zu können,