Shana. Micha Rau
Читать онлайн книгу.waren ihre liebsten Freunde da. Neben ihr und Belly waren Jeronimo, Dali, Nora, Lasita und Biene gekommen. Biene hieß Biene, weil sie sich als kleines Kind einmal aus Versehen in die unerwünschte Zone gebeamt hatte und gleich von einer Biene gestochen worden war. Das hatte nicht nur sie, sondern die meisten anderen davon abgehalten, es ihr nachzutun.
Jeronimo und Dali waren Zwillinge. Die beiden Jungs traten immer gemeinsam aus dem Beamer, was bei manch älterem Modell bisweilen an die Energiereserven ging. Shana hatte immer Angst, dass sie nicht komplett zusammengesetzt wieder erscheinen würden, sozusagen ein Bein hier und ein Arm da. Aber bis jetzt war es immer gut gegangen. Nora ging erst ein Jahr in ihre Klasse. Sie war hängen geblieben und nicht sonderlich helle, aber dafür war sie das ehrlichste Mädchen auf der Welt. Und Lasita war die schönste in ihrer Klasse. Vermutlich sogar von allen registrierten Schülerinnen. Sie brauchte eigentlich keine Multiwand, die sie einkleidete. Alles, was sie je anziehen würde, hätte die Jungs umgehauen, gestand sich Shana ein wenig eifersüchtig ein. Allerdings war sie trotzdem zu dick.
„Belly hat die Clips ausgesucht“, rief Krissa fröhlich. „Ich kann nichts dafür!“
Shana wurde aus ihren Gedanken gerissen und griff sich eines der Zitronenröllchen, die ihre Freundin herumreichte.
„Wenn ihr was trinken wollt, sagt der Multiwand Bescheid. Ich hab euch freigeschaltet.“
„Okay, danke“, meinte Nora. „Multiwand! Eine Orazico, bitte!“
„Habe ich Sie richtig verstanden?“, kam es von der Wand. „Eine Oraziko?“
„Ja, eine Oraziko. Meine Wand weiß, was das ist“, meinte Nora schnippisch. „Eine Orangen-Zitronen-Cola!“
„Ich nehme an, ich mische Orangensaft mit Zitronensaft und Cola?“, meinte die Stimme unbeirrt.
„Korrekt“, grinste Nora.
Krissa schüttelte den Kopf. „Orazico! Du bringst noch das System meiner Multi mit deinen Wünschen durcheinander!“
„Egal“, sagte Belly ungerührt und hielt einen kleinen Chip hoch. „Hier, ich hab drei Stück besorgt. Das ist mein Geburtstagsgeschenk für Krissa. Mehr Geld hatte ich nicht“, grinste er. „Sucht euch einen aus.“
„Was hast du?“, fragte Dali. „Hoffentlich nicht nur Mädchenfilme!“
„Na ja …“, druckste Belly. „Schließlich hat Krissa Geburtstag. Aber keine Sorge, ich hab für alle was dabei. Duell im Staub der letzten Tage, Martial Fights und Liebe zwischen den Welten.“
„Du hast Martial Fights besorgt?“, fragte Shana ungläubig. „Der ist erst ab 21! Woher hast du den Entsperrungscode?“
„Von Carl.“
Shana verdrehte die Augen. „Der hat wohl allen den Code verkauft! Irgendwann wissen unsere Eltern, dass wir den Code haben, und dann gibt’s Ärger.“
„Ich darf Martial Fights nicht sehen“, kam es halblaut von Nora. Wie auf Kommando drehten sich alle Köpfe zu ihr.
„Nicht mal heimlich?“, fragte Jeronimo verblüfft. Er konnte anscheinend gar nicht glauben, wie jemand einen solchen Film ausschlagen konnte. „Das merkt doch keiner.“
„Doch“, sagte Nora mit fester Stimme. „Ich kann nicht schwindeln. Und wenn ich zurückkomme und meine Eltern mich fragen, was wir gesehen haben …“
„Also fällt Martial Fights aus“, stellte Krissa fest, was Shana und die Jungs zu einem enttäuschten Aufstöhnen veranlasste. „Bleiben noch Duell im Staub der letzten Tage und Liebe zwischen den Welten. Wer ist für welchen?“
Nach einigem Hin und Her endete die nicht zu umgehende Abstimmung mit einem Unentschieden.
„Losen wir“, entschied Krissa. „Multiwand! Zufallsgenerator für eine Wette einschalten! Kopf ist Liebe zwischen den Welten und Zahl ist Duell im Staub der letzten Tage!“
„Zufallsgenerator ist eingeschaltet“, tönte es monoton aus der Wand. „Dauer bis zum Abbruchbefehl, Umdrehungsgeschwindigkeit der virtuellen Münze vierhundert Kilometer pro Sekunde.“
Auf der Multiwand erschien ein Monitor, der eine fußballgroße Münze zeigte, die sich sofort in rasende Drehung versetzte, bis nur noch ein schwirrendes Etwas in der Mitte des Bildschirms flimmerte.
„Stopp!“, schrie Krissa. Im Bruchteil einer Sekunde verharrte die Münze und zeigte die Seite, auf der das Bildnis des letzten Regierungschefs eingraviert war.
„Entscheidung gefallen“, sagte die Wand. „Kopf. Liebe zwischen den Welten.“
„Okay“, sagte Krissa und kümmerte sich nicht um das enttäuschte Gestöhne derjenigen, die für den anderen Anifilm gewesen waren.
„Gib her das Ding!“
Belly reichte Krissa den Chip, die ihn in einen kleinen Schlitz im manuellen Bedienteil einführte. Augenblicklich verschwand der Monitor mit der Münze, und die Multiwand begann, erwartungsvoll zu summen.
„Drei Filme erkannt“, sagte die Stimme. „Liebe zwischen den Welten ausgewählt. Warten auf Startbefehl. Mit Werbung oder ohne?“
„Bloß keine Werbung“, meinte Krissa, ging zurück zu ihrem Kissen und ließ sich darauf nieder. „Fang an, aber nicht lauter als Stufe 8!“
Das leise Hintergrundsummen verstärkte sich, und überall im Zimmer schoben sich die Spitzen der Animationsprojektoren hervor. Zu jeder Animationsfilmanlage gehörten Hunderte dieser bleistiftdicken Nadeln. Eine Anifilmanlage in die Multiwand zu integrieren war sündhaft teuer. Krissa hatte sie von ihren Eltern zum Geburtstag bekommen, aber Shana wusste, dass Krissa damit nicht angeben würde. Ihre Eltern verdienten weit mehr Geld als die meisten anderen, aber ihrer Wohnwabe merkte man das nicht an. Jedenfalls war Krissa die einzige, die jetzt eine Anifilmanlage besaß. Da brauchten sie an den Wochenenden nicht mehr ins Kino zu gehen. Shanas Vater hatte gesagt, dass in der Zeitung gestanden hätte, dass das Kino sowieso bald schließen müsste, wenn jedermann in Zukunft eine Anifilmanlage besitzen würde.
Das Zimmer verdunkelte sich. Dann setzte eine dramatische Orchestermusik ein, die den Boden zum Beben brachte.
„Multiwand!“, brüllte Krissa. „Ich hab gesagt, nicht lauter als 8!“
Augenblicklich verringerte sich die Lautstärke auf ein erträgliches Maß. Fahles Licht durchdrang Krissas Zimmer, das jetzt kein Zimmer mehr war, sondern eine unwirkliche Landschaft. Die Projektoren schufen die fantastische Illusion einer weiten Prärielandschaft, die auf einem fernen Planeten zu finden sein musste, denn die Farben des Grases, des Himmels und des am Horizont im Dunst hervorragenden Gebirges waren vollkommen unirdisch. Die Landschaft erstreckte sich über Meilen und wirkte bedrohlich und faszinierend zugleich.
„Ich find Liebesschnulzen lahm“, grummelte einer der Jungs.
„Wart’s ab!“, entgegnete Belly, der den Film ja schließlich ausgesucht hatte.
Plötzlich erfüllte ein seltsames Pfeifen die Umgebung. Das Geräusch klang unangenehm in den Ohren und schwoll mit einemmal zu einem lauten Röhren an. Dann, wie aus dem Nichts kommend, schoss ein schwarzer Raumgleiter über die Köpfe der verblüfften Kinder hinweg und entfachte einen kleinen Wirbelsturm, der die Zuschauer aus den Sitzkissen riss.
„Ohhh Mann!“, entfuhr es Jeronimo. „Das war der Hammer!“
„Hab ich doch gesagt!“, grinste Belly, der sich wieder in sein Kissen hievte und im Leder festkrallte. „Pass auf, da kommen noch mehr!“
Kaum hatte Belly das gesagt, zischten drei, vier, fünf weitere kleine Kampfmaschinen dicht über dem Boden dahin, kaum ein paar Meter über den Köpfen der Zuschauer. Wieder wurden sie durcheinander gewirbelt. Staub und kleine Steinchen flogen durch die Gegend. Die fünf Raumgleiter folgten dem ersten, der jetzt in einem wahnwitzigen Manöver nach oben schoss. Offensichtlich wurde hier