Shana. Micha Rau
Читать онлайн книгу.wurde zu einem Klumpen. Wohin? Was tun?
„Hallo! Komm ruhig näher! Ich beiße nicht!“
Der Impuls, wegzulaufen, war unglaublich groß, doch die Stimme des Mannes auf der Veranda klang tief und Vertrauen erweckend. Shana konnte ihren Vater hören, der ihr immer wieder eingebläut hatte: Gehe niemals zu einem Fremden, egal, wie nett er auch immer erscheint. Aber das war irgendwie Blödsinn, denn wo sollte man in ihrer Welt schon einen Fremden antreffen? Der Beamer war im Prinzip idiotensicher, das meiste machte man von zu Hause aus, und selbst in den Einkaufszentren wurde der Bewegungsradius durch das eigene System überwacht. Na ja, man konnte da schon ein wenig dran rumspielen, wenn man Carl kannte. Aber auf diesen Moment im Wald in der unerwünschten Zone war Shana nicht vorbereitet. Hier konnte sie sich nur auf ihr Gefühl verlassen.
„Ich bin harmlos!“, rief der Mann mit einem sympathischen Lachen. „Und ich freu mich, wenn mich jemand besucht. Das ist schon viele Jahre nicht mehr passiert.“
Shana kniff die Augen zusammen. Der sah nett aus. Seine Stimme klang auch nett. Sie beschloss, dass sie es wagen konnte. Aber nicht zu nah.
„Hallo“, sagte sie leise. „ich bin Shana. Ich beiße auch nicht.“
Der Mann brach in schallendes Gelächter aus und winkte sie zu sich.
„Okay, dann sind wir beide harmlos! Komm, schau dir an, was ich gemalt habe.“
Zögernd ging Shana näher. Ein paar Schritte vor der Veranda blieb sie stehen und verdrehte den Hals. Der Fremde drehte die Staffelei in ihre Richtung und lehnte sich zurück.
„Wie findest du’s?“
Das Bild, das Shana betrachtete, war auf grobe Leinwand gemalt. Es war etwa zur Hälfte fertig und zeigte eine Szene aus einem Hafen des Mittelalters. Es schien ihr, als handelte es sich um spanische Galeeren, die kurz vor der Abfahrt zu einer langen Reise standen, denn viele Männer waren dabei, die verschiedensten Waren an Bord zu schleppen. Ein tiefblauer Himmel stand im Kontrast zum dunklen Schwarzbraun der Schiffsrümpfe, und am Kai herrschte reges Treiben. Shana war sofort fasziniert von diesem Bild. Es fehlten noch viele Details, einige Stellen waren noch weiß, doch bereits jetzt wirkte es so naturgetreu, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Es schien so … echt.
„Es ist toll!“, entfuhr es ihr. „Ich könnte niemals so malen.“
„Es ist ganz einfach“, entgegnete der Mann. „Man muss es nur wollen. Die Bilder entstehen im Kopf. Du musst dir vorstellen, was du sehen möchtest und dabei den Pinsel führen.“
„Schön wär’s“, murmelte Shana.
Der Fremde lächelte und betrachtete sie neugierig. „Du bist nicht das erste Mal hier draußen, stimmt’s?“
Shana wand sich unbehaglich. Sie wusste nicht, wie viel sie dem Mann sagen durfte.
„Ich werd dir sagen, warum ich das glaube. Dein Name ist Shana. Das klingt geheimnisvoll, nach Mut und Tatendrang. Du wirst anders sein als die meisten deiner Freunde, und wenige werden deinen Gedanken folgen können. Du gehst gern deine eigenen Wege, möchtest aber gleichzeitig, dass andere dir folgen. Du warst schon einmal hier und hast einen Rucksack mitgenommen, um dir ein paar Äpfel mit nach Hause zu nehmen. Und du hast das Problem, das niemand auf dich hört.“
Shana fiel vor Verblüffung der Kiefer runter.
„Woher weißt … woher wissen Sie das?“
„Du kannst mich ruhig duzen. Ich heiße Rufus.“
Er kam vom Schemel hoch, stellte sich an den Rand der Veranda, bückte sich zu Shana hinunter und reichte ihr die Hand. Verdattert tat Shana die wenigen Schritte hinüber und schlug ein.
„Shana, aber das weißt du ja schon.“
Wieder lachte der Fremde, und jetzt nahm sich Shana die Zeit, ihn ein wenig näher zu begutachten. Er erschien ihr ungefähr so alt wie ihr Vater, aber ansonsten war er das genaue Gegenteil. Seine Figur war schlank, ja beinahe drahtig, seine Haare wie auch seinen wenige Tage alten Bart durchzogen silberne Fäden, und seine blaugrauen Augen strahlten Gutmütigkeit aus. Wenn der Fremde lächelte, erschienen an jedem Mundwinkel drei kleine Fältchen, die seine freundliche Ausstrahlung noch verstärkten. Shana entschied für sich, dass dieser Mann keine Gefahr für sie darstellte.
Rufus ließ ihre Hand wieder los und verschwand in seiner Blockhütte.
„Bin gleich wieder da!“, rief er über die Schulter zurück. Wenige Minuten später kehrte er zurück, in der einen Hand einen Kaffee, in der anderen eine Tasse mit dampfendem Kakao. Vorsichtig stellte er beides vor der Staffelei auf den Boden und ging noch einmal zurück ins Haus. Als er wieder auftauchte, hatte er einen zweiten Schemel dabei, den er neben den ersten stellte.
„Setz dich“, meinte er gutmütig, „und lass es dir schmecken.“
Shanas Misstrauen war komplett verflogen. Ohne zu zögern nahm sie auf dem zweiten Schemel Platz und die Tasse Kakao mit beiden Händen vom Boden auf. Vorsichtig kleine Schlucke nehmend vertiefte sie sich erneut in das Bild.
„Verkaufst du die Bilder?“
„Nein“, schmunzelte Rufus. „Niemand soll sie kaufen, niemand kann sie kaufen, und niemand darf sie kaufen. Sie sind nur für mich.“
„Warum darf sie niemand kaufen?“, fragte Shana naiv.
„Ich … ich möchte sie nicht verkaufen. Für mich sind sie etwas ganz Besonderes. Es sind Traumbilder. Ich brauche sie auch gar nicht verkaufen. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche. Und wenn mir was fehlt, mal ich es mir halt.“
Shana schaute Rufus erstaunt an. „Du malst dir, was dir fehlt? Das geht doch gar nicht! Oder hast du eine Art Multiwand, die dir alles besorgt?“
Rufus runzelte die Brauen. „Multiwand? Was ist das denn? Ein Computer?“
Shana nickte.
„Nein, einen Computer habe ich nicht. Aber wenn ich will, habe ich einen Laden, in dem es alles gibt. Du brauchst dir keine Sorgen um mich machen, ich verhungere schon nicht.“
Einige Sekunden vergingen. Rufus nahm einen kleinen Tiegel mit einer undefinierbaren Farbe und den Pinsel von der Ablage der Staffelei, lehnte sich zurück und blickte einige Sekunden lang zum Waldrand. Dann begann er mit federleichten Bewegungen zu malen. Ein Lagerschuppen entstand wie aus dem Nichts. Sekunden später Mohnblumen, die an seinen Seiten wuchsen und eine Möwe, die vom First des Daches die Szenerie beobachtete. Shana hielt den Atem an. Das, was sie sah, war tatsächlich atemberaubend. Niemand konnte so malen. Das war unmöglich. Staunend sah sie zu, wie Rufus das Bild vollendete. Er benutzte dazu nur diesen einen Tiegel, in dem sich die verschiedensten Farben wie von selbst zu mischen schienen. Das leichte Unbehagen, das sie vorhin schon abgeschüttelt zu haben schien, war wieder da. War dieser Rufus ein bisschen verrückt? Oder spielten ihr ihre Augen einfach nur einen Streich?
„Rufus?“
„Hmm …?“
„Wie lange wohnst du schon hier?“
„Ich bin nur hier, wenn ich ein Bild malen will. Hier kann ich am besten träumen, und nur dann gelingen die Traumbilder.“
„Wo warst du denn dann vor …“ Sie überlegte einen Moment lang, wann sie das letzte Mal hier gewesen war. „… vor zehn Tagen?“
„Vor zehn Tagen? Hm … da war ich in der Karibik. Ich kann dir ein Bild von der Insel zeigen, wo ich war. Aber nach einer Woche hatte ich genug von der Hitze und bin wieder hierher gekommen. Ich hatte Lust, dieses Bild von Tarragona zu malen. Vielleicht steche ich morgen mit den Spaniern in See.“
Shana war sich plötzlich ganz und gar nicht mehr sicher, ob Rufus vollkommen normal und ungefährlich war. Eine Frage lag ihr noch auf der Zunge.
„Du hast das Haus hier in zehn Tagen gebaut?“
Rufus hielt beim Malen inne und lächelte. „Nein, für so ein Haus brauche ich höchstens