Shana. Micha Rau

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Shana - Micha Rau


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sie gut aussah.

      „Mich sieht sowieso keiner“, murmelte sie. Als letztes packte sie die dünne Regenjacke zu einem kleinen Knäuel zusammen, steckte sie in den Rucksack und streifte ihn über.

      „Fertig!“ Langsam wurde sie nervös. Sie ging nicht oft hinaus, höchstens einmal im Monat, aber es war jedes Mal höllisch aufregend. Hibbelig trat sie von einem Bein aufs andere.

      „Multiwand! Beamerziel: Planquadrat C4!“

      „Planquadrat C4 liegt in der unerwünschten Zone. Bitte neues Ziel angeben.“

      „Multiwand! Ich bestehe auf Planquadrat C4!“

      Es war jedes Mal das gleiche. Die Multiwand konnte ihr kein Ziel verweigern, es sei denn, es war ein militärisches oder aber ihre Eltern hätten bestimmte Ziele gesperrt. Das hatten sie aber nicht. Die Rückfrage war im Sicherheitsprogramm der Multiwand einprogrammiert, damit sich nicht jemand versehentlich nach draußen beamte.

      „Planquadrat C4 akzeptiert und eingestellt.“

      „Na also, warum nicht gleich so!“, brummte Shana zufrieden. Sie vergewisserte sich, dass sie ihr Portable System am Handgelenk trug, ohne das sie nicht mehr nach Hause gekommen wäre. Dann gab sie der Wand einen letzten Befehl.

      „Multiwand! Alle Nachrichten auf mein Portable weiterleiten!“

      „Aktiviert.“

      „Na, dann geh ich jetzt mal …“

      Ohne ihrem Zimmer noch einen Blick zu gönnen, ging sie mit festen Schritten auf den Beamer zu und verschwand in dem flirrenden Rahmen.

      *

      Mit geschlossenen Augen stand sie da. Ihre Sinne waren bis zum Äußersten angespannt. Unter ihren neuen Schuhen spürte sie einen weichen Untergrund, und es knisterte leicht, als sie ihr Gewicht verlagerte. Vorsichtig atmete sie ein. Der Duft, der in ihre Nase strömte, war unvergleichlich. Überall, wo sie sich sonst aufhielt, herrschten das gleiche Klima und beinahe immer die gleichen Gerüche. Die Computer sorgten für eine konstante Temperatur von 21° Celsius, und die Klimaanlagen gaben weder Essensgeruch noch sonstigen Ausdünstungen eine Chance.

      Wo Shana jetzt stand, gab es keine Klimaanlagen. Ein sanfter Wind umspielte ihr Gesicht, während sie versuchte, die Gerüche einzuordnen. Der Duft von Tannennadeln und Laub mischte sich mit dem von Pilzen, vermoderndem Holz, Erde und Harz. Shana meinte, auch die Spur eines Wildgeruchs zu bemerken, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Wildschweine? Ein Fuchs?

      Sie öffnete die Augen. Sie stand auf einem Pfad, der mitten durch einen Mischwald führte. Die Sonne sandte Ableger ihres Lichts durch die wenigen Lücken in den Wipfeln der Bäume herab und schuf eine geheimnisvolle Atmosphäre. Unzählige Spinnennetze hingen zwischen den Büschen im Unterholz. Millionen von Tautropfen verrieten ihre Anwesenheit. Shana musste lächeln. Die Spinnen mussten sauer sein, dass man ihre filigranen Fallen so gut sehen konnte. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Der Pfad schlängelte sich durch die Bäume und verlor sich hinter einer Biegung.

      „Hm, war es links oder rechts lang?“, überlegte sie laut. Eigentlich war es egal, wo lang sie ging, denn sie glaubte nicht, dass sie jemals weit genug kommen würde, um aus dem riesigen Wald herauszugelangen. Ihr Portable würde sie rechtzeitig warnen, wenn sie den Radius der optimalen Sendeleistung für den Beamer verlassen würde. Auf der anderen Seite hatte sie keine Ahnung, wie weit dieser Radius reichte, denn für gewöhnlich war man immer in Reichweite irgendeiner Empfangs- und Sendestation. Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Acht von zehn Balken. Das war mehr als genug. Sie holte Luft und wandte sich nach links.

      Der Pfad war schmal, es passten kaum zwei Füße nebeneinander. Vermutlich hatten Rehe ihn ausgetreten. Shana wusste sehr viel über die Tiere und Pflanzen des Waldes. Es gab einen gigantischen Zoo und einen Botanischen Garten, in die man sich beamen lassen konnte und für viel Geld mit einem Elektrowagen durchgekarrt wurde. Das waren die üblichen Ausflüge, die man machte, wenn Oma und Opa zu Besuch kamen.

      Zum großen Missfallen der Kinder hielt sich niemand ein Haustier, denn wer würde auch mit einem Hund Gassi gehen wollen und wo? Nein, den meisten Erwachsenen war es zu lästig, so etwas zu organisieren, also gab es mit der Zeit niemanden mehr, der ein Tier zu Hause hatte.

      Shana setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Trockenes Laub knisterte unter ihren Füßen. Hier und da raschelte es im Unterholz, und einmal flitzte eine Maus über den Pfad. Shanas Herz klopfte heftig. Sie verspürte keine Angst, allein hier draußen zu sein, sie war einfach nur aufgeregt. Beim ersten Mal war das anders gewesen, da hatte sie sich nach fünf Minuten wieder zurückgebeamt. Aber kaum war sie in ihrem Zimmer materialisiert, wurde das Verlangen, wieder hierher zu kommen, unerträglich. Die Außenwelt war so vollkommen anders. Sie roch anders, sie war zu fühlen, zu schmecken, zu hören und zu sehen. Und sie war unglaublich schön. Seit sie das erste Mal in diesem Wald gewesen war, kam ihr ihre eigene sterile Welt hässlich vor. Das einzige, was sie schade fand, war, dass sie dies hier mit niemandem teilen konnte. Es war schon heikel genug, dass sie allein hier rausging, aber wenn sie jemanden eingeweiht hätte, hätte sich das Risiko verdoppelt. Alles durfte passieren, nur nicht, dass man ihr Geheimnis entdeckt hätte. Denn dann würden ihre Eltern ihr die Außenwelt sperren.

      „Mist!“, murmelte sie vor sich hin. „Irgendwann sag ich Krissa Bescheid, und wenn es doch rauskommt, dann kann mir vielleicht Carl mit einem Entsperrungscode helfen.“

      Ein Windstoß rauschte durch die Wipfel der Bäume. Morsche Äste knackten, und ein Stück weit neben ihr fiel etwas aus großer Höhe herab. Eine Gänsehaut strich über Shanas Rücken. Sie musste zugeben, dass es zwar zu Hause langweiliger, aber garantiert auch sicherer war. Langsamen Schrittes ging sie weiter. Beim Gehen betrachtete sie versonnen ihre Schuhe, die mit jedem Schritt ein wenig Staub aufwirbelten. Ihre Gedanken machten sich selbstständig. Warum konnte man nicht hier draußen wohnen? Nein, dann müsste man ja Bäume fällen, und bei so vielen Menschen wäre es bald um den Wald geschehen, wenn die alle hier wohnen wollten. Dann vielleicht Baumhäuser? Da könnten die Bäume stehen bleiben. Shana musste lächeln. Wenn man in einem Baumhaus wohnte, durfte man nur nicht nachts aufs Klo müssen und die falsche Tür aufmachen! Vor ihrem geistigen Auge erschienen in den Wipfeln der Bäume unzählige Baumhäuser. Aber was, wenn Sturm aufkäme? Shana seufzte. Sie hatte sich das so schön vorgestellt, aber so einfach war es eben nicht. Es blieb wohl ein Traum. Ihr Vater hätte gelacht und gesagt: Wozu brauche ich ein Baumhaus? Wir haben doch hier alles!

      Mit einem Mal wurde es heller und Shana schrak aus ihren Gedanken. Eine Lichtung! Sie beschleunigte ihre Schritte. Beim letzten Mal hatte sie sich genau bis hierher vorgewagt, ehe sie umkehrte. Auf dieser Lichtung standen drei uralte Apfelbäume, die Äpfel trugen, deren Geschmack unvergleichlich war. Voller Vorfreude streifte sie den Rucksack von der Schulter, den sie extra mitgenommen hatte, um genügend Äpfel mit nach Hause nehmen zu können.

      Als sie den Schutz der Bäume verließ und gleißendes Sonnenlicht sie empfing, erwartete sie eine Überraschung. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder, und sie stolperte, weil sie so schnell nicht abbremsen konnte. Als sie ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Lichtung, auf der die drei Bäume nach wie vor ihre krüppeligen Äste in die Luft streckten. Doch die Äpfel waren es nicht, die Shana erschreckten. Es war das Haus, das mitten auf der Lichtung stand. Ein Blockhaus, gezimmert aus dicken, dunkel gebeizten Stämmen. Das Haus besaß eine Veranda, auf der sich drei Dinge befanden. Ein unbequem aussehender Holzschemel, eine Staffelei und ein Mann, der auf ebenjenem Schemel saß und an einem Bild arbeitete. Der Mann schaute überrascht auf, als Shana aus dem Wald stolperte, und ließ die Hand mit dem Pinsel langsam sinken.

      Shanas Gedanken überschlugen sich. Woher kam dieses Haus? Woher kam dieser Mann? Wer war dieser Mann? Niemand ging freiwillig in die unerwünschte Zone. Oder gab es noch mehr, die hier draußen sein wollten, so wie Shana? Aber wie kam das Haus so schnell hierher? Shanas letzter Besuch auf der Lichtung war noch gar nicht so lange her. Mit einemmal meldete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Bauch. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Sie blickte sich gehetzt um. Zurück in


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