WIE SIE IHR ERSTES BUCH SCHREIBEN. Martin Selle
Читать онлайн книгу.ihn da zu sein. Er förderte das Boxinteresse seines Sohnes, ermöglichte ihm eine Ausbildung in einem zweitklassigen Fightclub, brachte ihn zum Training und zu den Kämpfen, sah sich diese an und brachte ihn wieder nach Hause. In Simon steckte ein willensstarker Kämpfer, er trainierte übermäßig hart und erschuf sich so schnell einen Namen in der Kämpferszene. Seine Kameraden im Boxclub nannten ihn ›Ironfist‹ - die eiserne Faust. Später, als ihm sein Auge die Karriere vermasselte, empfand er es als eine Fügung des Schicksals.
Zur Zeit seiner Boxerfolge standen natürlich die Mädchen auf Simon. Er bildete sich nicht allzu viel ein darauf, genoss es aber, im Mittelpunkt zu stehen. Damals fühlte er sich dadurch nicht nutzlos. Zu einer ernsthaften Beziehung kam es nie. Wie auch, das immer mehr zerrüttete Verhältnis zwischen seinen Eltern färbte in Sachen Partnerschaft nicht positiv auf ihn ab.
So, nun wissen wir einiges über Simons gesellschaftlichen Status. Kommen wir nun zu seiner seelischen Dimension. Dass er Vater und Mutter hasst, wissen wir bereits.
Simon zog sich in eine innere Scheinwelt zurück, baute sich Luftschlösser.
Er war in der Schule Mittelmaß, interessierte sich vorwiegend für Naturwissenschaften. In dieser Zeit reifte sein Ziel, eines Tages ein weltberühmter Archäologe zu sein. Dieser Wunsch wird sein innerer, treibender Feuereifer. Oft lag er wach im Bett und malte sich im Geiste aus, wie er in Ägypten und Mexiko Funde von historischer Bedeutung machte, Funde, die unsere gewohnten Bilder über alte Kulturen in ein völlig neues Licht rücken. Dann würde er allen, die ihn jemals auf irgendeine Art und Weise unterschätzt und belächelt hatten, zeigen, dass er es nach ganz oben geschafft hatte.
Im Beruf des Archäologen sah er auch die Chance, all den Umständen zu entfliehen, die ihm Angst machten. Während der gesamten Collegezeit plagte ihn der Gedanke, den Abschluss nicht zu schaffen, zu scheitern. Was würde dann aus ihm werden? In der Boxmannschaft war er hoch angesehen, doch er wollte sich nicht ein Leben lang den Verstand aus dem Kopf prügeln lassen. Und in den höheren Kampfklassen nahmen die Kerle keine Rücksicht auf die Gegner im Ring, da hieß es überleben oder untergehen.
Die Alternative wäre gewesen, sich den Strebertypen anzuschließen. Aber im Kreise dieser intellektuellen Spießer fühlte er sich am wenigsten wohl. Er wusste nicht genau, warum, aber er war ›keiner von ihnen‹, das spürte er instinktiv.
Und dann passierte der Kampf, der ihm beinahe das Augenlicht kostete. Er war zwar der Ansicht, er könne weiterhin in den Ring steigen, aber sein Trainer riet ihm nachdrücklich davon ab. Einen rechten Haken würde er in Zukunft viel zu spät kommen sehen, das könnte ihn am linken Auge eines Tages völlig blind machen. Diesen Umstand nutzte er, um seine Zeit und Kräfte auf die Archäologie richten zu können.
Simon hatte sich schon immer geschickt angestellt mit Betrügereien. Schon als Jugendlicher gelang es ihm, Teens, die in den Boxsport wollten, Grundkurse anzudrehen, für die sie bezahlen mussten. Einige vermittelte er an Fightclubs, wofür er Provision nahm.
An einem Samstagabend saß er vor dem Fernseher und sah das Portrait eines Selfmade-Millionärs, der nach seinem Highschool-Abschluss nach New York gegangen und es dort geschafft hatte. Von da an arbeitete Simon hart auf seinen Abschluss hin. Was er danach tun würde, wusste er jetzt.
Nach und nach empfinden wir Simon als eine dreidimensionale, lebensechte Figur. Er ist vielleicht nicht Ihr Liebling, aber er ist unter uns, ein Mensch, keine flache Karikatur ohne Vergangenheit und Leben.
Lebensechte Figuren zu erschaffen ist viel Arbeit. Aber es ist enorm wichtig, dass Sie wissen, wie Figuren ticken, was sie denken, fühlen, tun. Das Leben von der Geburt bis zum Beginn der Geschichte formt den Charakter der Figur, Ihre Geschichte enthüllt ihn, zeigt ihn dem Leser. Eine Figur tut, was sie tut, weil sie so ist, wie sie ist.
Was könnte mit Simon nun in New York geschehen?
Sagen wir, er hat sich in einer drittklassigen kleinen Wohnung in Hells Kitschen eingemietet und ein paar schlecht bezahlte Jobs angenommen. Er hat für ein Restaurant den Müll rausgetragen, hat Straßen gefegt und in einem Diner Teller gespült. In seiner spärlichen Freizeit besuchte er von den ersparten Dollars Ausstellungen und kaufte sich Bücher über Archäologie. Er studierte Epochen, alte Königreiche und las viel über berühmte Ausgrabungen.
An einem Märzfreitag besuchte er eine ägyptische Ausstellung im New York State Museum, lernte dort Chester Burns kennen, der rund um den Globus schon einige Ausgrabungen geleitet hatte. Simon erfuhr, dass Burns dringend Leute brauchte, eine Expedition in die Anden sollte auf die Beine gestellt werden. Simon, noch immer beseelt vom Entdeckerdrang, geblendet vom Ruhm großer Namen wie Howard Carter, musste ganz einfach im Team dabei sein.
Wenige Wochen später kämpfte sich Simon mit der Machete durch den chilenischen Wald. Es galt, einen Fund vorweisen zu können, der die Sponsoren bewegen würde, ein ganzes Expeditionsteam auszustatten und vor Ort zu schicken.
Große Entdeckungen blieben aus. Lediglich ein paar alte Steine mit Symbolen wurden gefunden. Zudem war Burns nicht gerade das, was man einen gerechten Expeditionspartner nannte. Die Kommunikation mit der Presse und den Sponsoren führte ausschließlich Burns durch. Es schien, als hätte er Angst, Simon könnte sich in den Vordergrund spielen.
Trotzdem verließ Simon Chile nicht. Fast einen ganzen Monat wühlten sie sich auf der Suche nach einer legendären Inkastadt durch die Wildnis. Stets in der Hoffnung, den großen Fund zu landen. Dann würde Burns ein Grabungsteam leiten und Simon die Hälfte des Ruhms und des Gewinns erhalten. Dann würde er für immer ausgesorgt haben und in den Geschichtsbüchern stehen.
An einem Sonntag, kurz vor Mittag, entdeckten sie unter dichten Lianen und Baumwurzeln mehrere sorgfältig aufgeschlichtete Steinblöcke. Anzeichen einer Stadtmauer? Simon begann zu fürchten, Burns würde alles daran setzen, um den Ruhm für sich alleine einzuheimsen. Wenn er Burns über das Satellitentelefon sprechen sah, um den Fortschritt der Grabungen an die Sponsoren weiterzugeben, dann glaubte Simon, er würde neue Konditionen aushandeln. Chester Burns würde ihn aufs Kreuz legen, wenn nötig sogar umbringen.
In diesen Tagen reifte in Simon selbst der Gedanke an Mord. Ihn trieb die Angst.
Simon wusste, Burns besaß eine Pistole. Als er über all die Möglichkeiten nachdachte, wie leicht Burns ihn hier im Dickicht verschwinden lassen konnte - es gab eine Menge wilder Tiere und tiefe Schluchten - war er sicher, er würde dieses Land nicht wieder lebend verlassen.
Simons Angst nährte sich aus Ruhmsucht, Profitgier und Ungewissheit.
Eines Nachts lag Simon wach in seinem Feldbett im Zelt und beschloss, Burns zuvorzukommen. Chester Burns schlief in seinem Zelt, als Simon sich an ihn heranschlich. Er zog den Revolver aus Burns' Holster und erschoss ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.
Simon warf die Leiche in eine Felsspalte, nahm die Steinfunde mit den Symbolen an sich und fuhr Richtung Stadt. Den Jeep versenkte er in einem Fluss. Anschließend versteckte er sich drei Wochen in einem abgelegenen Andendorf, wartete, bis ihm ein Vollbart gewachsen war und seine Haare länger waren. Nach diesen Tagen machte er sich auf den Weg nach Quito, wo er die Funde und eine von ihm angefertigte Skizze über die Lage der entdeckten Inkastadt, für eine Menge Geld auf dem Schwarzmarkt verkaufte.
Zurück in New York, beschloss Simon, das Geld in ein Geschäft zu stecken. Er kaufte einer Frau namens Sarah Delaney deren Irish Pub, das ›Golden Dublin‹ ab. Sarah steckte in Geldschwierigkeiten und war Simon dankbar dafür, dass er ihr aus der Patsche geholfen hatte. Er stellte Sarah als Geschäftsführerin ein. Bald verliebten sich die beiden ineinander. Die Jahre zogen ins Land. Die beiden heirateten und bekamen einen Sohn, Justin und eine Tochter, Betty.
Das ›Golden Dublin‹ lief nach einigen Veränderungen prächtig und bald eröffneten Simon und Sarah drei weitere Filialen. In Reiseführern gelten die Pubs mittlerweile als ein Muss für Touristen.
Simon ist jetzt neununddreißig Jahre alt, der Zeitpunkt, an dem unsere Geschichte beginnt. Simon hat sich geändert im Laufe der Zeit. Er ist nicht mehr der wild drauf losschlagende Kämpfer im Boxring. Auch sein Traum vom berühmten Archäologen hat sich als Märchenschloss entpuppt. Simon ist bemüht, ein fürsorglicher