WIE SIE IHR ERSTES BUCH SCHREIBEN. Martin Selle
Читать онлайн книгу.kommen gelaufen und begrüßen Papa. Das Familienglück ist perfekt. In der nächsten Szene geht derselbe Mann mit seinen Freunden in das Freudenhaus.
Dieses Verhalten weicht deutlich von dem ab, was der Leser von dem treuherzigen Familienvater und Ehemann erwarten würde. Der Leser wird sich diese Figur merken. Suchen Sie nach Kontrasten und Sie sind auf dem besten Weg, eine Figur zu erschaffen, die für den Leser interessant ist.
Königsweg 7: das Geheimnisvolle
Diese Technik ist eine der wirkungsvollsten. Warum? Weil wir Menschen von Natur aus neugierig sind. Denken Sie nur an Ihre Kindheit zurück, an die Geschenke unterm Weihnachtsbaum. Sie konnten es überhaupt nicht mehr erwarten zu erfahren, was sich in den verpackten, geheimnisvollen Geschenken befand. Diese unbändige Neugier! Ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Geschenken.
Dieses Verhalten machen sich Schriftsteller zunutze. Wenn Sie also eine Figur erfinden möchten, die sich auf immer und ewig im Gedächtnis des Lesers einbrennt, dann lassen Sie Ihren Helden geheimnisvoll, mysteriös erscheinen.
Wie machen Sie das in der Praxis? Sie zeigen eine Figur, die der Leser nicht einordnen kann, von der er sich nicht sicher ist, auf welcher Seite sie steht, die ihm Rätsel aufgibt über sein wahres ›Ich‹. Denken Sie nur an Figuren, von denen Sie bis zum Ende der Geschichte nie wirklich gewusst haben, ob sie ein ›Freund‹ oder ein ›Feind‹ sind. Eine geheimnisvolle Figur zieht jeden Leser in ihren Bann; er muss einfach die Wahrheit über diese Figur erfahren. Hier ein Beispiel aus meinem Jugendkrimi ›Der Millionenschüler‹. Da führe ich auf Seite 18 eine geheimnisumwitterte Figur ein, die ich den ›Schatten‹ nenne:
Sandra, Armin und Mario bezahlten und verließen das Café in Richtung Getreidegasse.
Klick.
Das Foto war scharf.
Wenige Schritte hinter SAM trat der Schatten auf die Straße hinaus, folgte den Detektiven in sicherer Entfernung und verschmolz dann ebenso mit der Menschenmenge in der engen Gasse.
Spüren Sie das Mysteriöse an dieser Figur? Sofort wollen wir wissen, wer dieser ominöse Schatten ist, für wen er arbeitet, weshalb er von den drei Kindern, die sich SAM nennen, Fotos schießt. Wir sind gefesselt, neugierig und wollen mehr wissen. Ich habe durch diese kurze Szene einen Spannungsbogen eingeleitet, der sich bis zum Schluss hinzieht, ehe der Leser erfährt, wer dieser geheimnisvolle Schatten ist und was es mit seiner Person auf sich hat.
Sorgen Sie also dafür, dass sich der Leser über das Verhalten einer Figur Fragen stellt. Aber nicht nur das Verhalten einer Figur kann Geheimnisse bergen, auch deren Vergangenheit, Verbindungen zu anderen Personen, Milieus. Die Technik des Geheimnisses eignet sich besonders gut, um am Beginn einer Geschichte Spannung zu erzeugen. Durch geheimnisvolle Figuren ziehen Sie Ihre Leser besonders schnell und intensiv in Ihre Geschichte hinein.
Niemand kannte seinen Namen. Niemand wusste, woher er kam. Und niemand würde ihn jemals zu Gesicht bekommen. Nur die Überlebenden, sie würden sich an ihn erinnern – für ewig. Seine Zeit war gekommen.
Königsweg 8: Abnormität
Figuren lassen sich ebenfalls durch abnorme Verhaltensweisen stark charakterisieren. Da gibt es in der Literatur viele Typen: den Paranoiker, den Psychotiker, den Hysterischen, den Manisch-Depressiven. Jeder Mensch trägt ein gewisses Quantum an Abnormität in sich, jeder ist ein bisschen verrückt auf seine ganz eigene Art und Weise.
Manische Figuren glauben, sie können alles und jeden erreichen. So könnte Ihr Held über Leichen gehen, um sein Ziel zu erreichen.
Schizophrene wirken schüchtern, unsicher, verlegen und äußerst sensibel. Man hat das Gefühl, nie wirklich zu wissen, woran man ist.
Paranoiker fühlen sich ständig von allen anderen verfolgt und neigen deshalb zu Aggressivität, sie wollen der Anführer sein.
Angstneurotiker fürchten sich vor allem und jedem. Sie machen sich ständig Sorgen um Gott und die Welt. Überall vermuten sie Untergang und Verderben.
Bedenken Sie, dass solche Charaktere immer (auch zum Ende Ihrer Geschichte) bleiben, was sie sind. Abnorme Personen ändern sich nicht grundlegend. Die Psychopathin wird nicht plötzlich die liebevolle Säuglingsschwester sein können.
Suchtverhalten wirkt auf den Leser abnormal. Stellen Sie sich vor, Ihr Held verspeist jeden Tag zehn Tafeln Schokolade, die Kindergärtnerin bringt liebend gerne achtjährige Mädchen um, zerstückelt sie und schickt den Eltern mit der Post Teile nach Hause. Das geht unter die Haut.
Abnormitäten rütteln an unseren Gefühlen und machen Figuren somit interessant und leichter erinnerbar.
Die Profi-Methoden zur Blitzcharakterisierung
Bei den nachstehend von mir beschriebenen Techniken geht es um die Klassenunterschiede zwischen Menschen, um kulturelle Herkunft und gesellschaftlichen, sozialen Status. Diese Themen werden oft als Tabus behandelt. Als Schriftsteller brennen Sie natürlich darauf, Tabus zu brechen, das ›Verbotene‹ aufzuzeigen, denn heikle Themen rufen emotionale Reaktionen hervor.
1. Kultureller Hintergrund
Kulturelle Unterschiede sind ein wesentliches Merkmal von Figuren. Sie entstehen aus angeborenen Eigenschaften, dem familiären Hintergrund, der Herkunft, der Religion. Solche Unterschiede liefern Ihnen als Autor den Konflikthintergrund. Die Technik besteht darin, Figuren zu entwerfen, die verschiedene kulturelle Hintergründe haben. Gemeint sind Traditionen, Verhaltensmuster, staatliche Institutionen, Brauchtum, religiöses Verhalten, Erziehung, Bildung. Statten Sie Ihre Figuren mit unterschiedlichen, über Generationen weitergegebenen Charakterzügen aus, die im kulturellen Hintergrund wurzeln. Ein hinduistischer Inder ist und reagiert anders als ein katholischer Deutscher.
2. Soziale, gesellschaftliche Schicht
Die Klassenzugehörigkeit charakterisiert Menschen. Diese Zugehörigkeit können Sie vielseitig zum Ausdruck bringen. Ein Millionär kleidet sich wahrscheinlich anders als ein Habenichts. Die Hände einer Putzfrau sehen vielleicht anders aus als die manikürten Hände einer Managerin. Figuren aus unterschiedlichen sozialen Schichten bergen ein enormes Konfliktpotenzial in sich. Um diese Unterschiede für den Leser leicht erfassbar zu machen, zeigen Sie einfach Merkmale, die den sozialen oder kulturellen Hintergrund der Figur signalisieren: Kleidung (Soldaten tragen Uniform), Gegenstände (Halbmond oder Kreuz), Symbole (der Ferrari vor der Tür).
Auf diese Weise assoziiert der Leser die Figur aufgrund eines Erkennungsmerkmals mit einer bestimmten Schicht. Sie müssen das nicht umständlich schildern. Es reicht, wenn Sie dem Leser das Erkennungsmerkmal nur nennen, das Bild oder die Handlung sprechen für sich: der goldene Siegelring am Finger des Mannes, die Punkerfrisur, der Akzent, Essgewohnheiten, auffällige Angewohnheiten der Ober- oder Unterschicht, Wortwahl (Gaunersprache, Professorendeutsch …), Inhalt von Aussagen (eine gebildete Figur verwendet Fremdwörter korrekt, hat geschichtliches Wissen, ist belesen; der ungehobelte Rüpel äußert sich vielleicht nahezu inhaltslos).
Insider-Tipp: Suchen Sie nach Klassenmerkmalen, die Sie in das Handeln der Figur einarbeiten können, indem Sie zeigen, was die Figur tut, und die dabei gleichzeitig etwas über das Milieu der Figur aussagen. Appellieren Sie an die Gefühle Ihrer Leser.
Denken Sie an Welterfolge wie James Camerons ›Titanic‹. Rose soll einen Mann aus reichem Hause heiraten, um zu Geld zu kommen. Sie selbst stammt jedoch aus ärmlichem Hause. Und Jack, in den sich Rose verliebt, entspringt ebenfalls der Unterschicht. Er reist im ›Keller‹ der Titanic mit, während Rose in den Luxusräumen logiert. Die Liebe als Vehikel – große Gefühle, elf Oscars. Sie verstehen die Technik.
Die Meisterformen der Figurenpräsentation
Wie teilen Sie dem Leser nun die charakteristischen Merkmale Ihrer Figuren mit? Indem Sie diese einfach und plump mitteilen,