WIE SIE IHR ERSTES BUCH SCHREIBEN. Martin Selle
Читать онлайн книгу.sind (unter der warmen Südseesonne), weisen deutlich auf Charakterzüge hin, wir ordnen diese Frau sofort einer ›gewissen Kategorie‹ zu. Bestimmt denkt der Leser nicht an eine Zeitungsverkäuferin. Die Brillantohrringe und der Ort, die Südsee lassen uns auf Reichtum schließen.
Oder dieses Beispiel:
»Wir schlagen los – jetzt sofort. Ich trau der Sache nicht!«, sagte Rick in seinem gewohnt gebrochenen Englisch.
Wir erfahren, dass ein Mann namens Rick ›losschlagen‹ will. Eine Handlung beginnt unmittelbar jetzt. Offenbar, so erfahren wir über Rick, ist er ungeduldig und misstrauisch. Es hat den Anschein, als müsse er mit jemandem zusammen einen Auftrag erledigen. Und er spricht ein gebrochenes Englisch, stammt also demnach aus einem anderen Land, Englisch scheint nicht seine Muttersprache zu sein.
Verwenden Sie also, vor allem am Anfang Ihrer Geschichte, zeigende, handelnde Techniken zur Charakterisierung. Beschreibende Techniken, die erzählen, behaupten, anstatt zu zeigen, um Figuren zu charakterisieren, wirken auf den Leser ermüdend, ziehen ihn nicht in die Welt Ihrer Geschichte tief hinein.
Jenny trug heute Turnschuhe, eine enge Jeans sowie ein gelbes T-Shirt und ihr Stirnband.
Leser unterscheiden Figuren aufgrund ihrer Handlungen, nicht dadurch, was Sie als Autor über die Figur berichten. Sagen Sie niemals, wie eine Figur ist, bringen Sie es durch Handeln der Figur zum Ausdruck. Sehen wir uns ein Beispiel an, wie wir eine Charaktereigenschaft einer Figur durch Handlung deutlich machen könnten:
Tobias war mehr als mutig.
Dieser Satz stellt eine bloße Behauptung des Autors dar. Uns wird mitgeteilt, dass Tobias mutig ist. Diese Form der Charakterisierung ist ungeschickt, sie berührt uns gefühlsmäßig nicht. Wie könnten wir bildhaft zum Ausdruck bringen, dass Tobias Mut besitzt:
Tobias stieg als Erster auf den morsch wirkenden Baumstamm. Schritt für Schritt tasteten sich seine nackten Füße vorwärts. Ich wurde nur vom Zusehen fast wahnsinnig. Die Schlucht unter ihm musste mindestens hundert Meter tief sein − und nur Felsen!
Diese Beschreibung von Tobias’ Mut ist gelungener, weil der Leser die Eigenschaft sieht. Tobias wird durch eine Handlung charakterisiert, die seine Tapferkeit zum Ausdruck bringt. Natürlich sollte das Bild, mit dem Sie Tobias’ Mut zeigen, inhaltlich zur Geschichte passen. In Tobias’ Fall könnte es sich um eine Pfadfindergeschichte handeln. Noch ein Beispiel: das ängstliche Kind. Wir erklären nicht, dass das Kind Angst hat, wir zeigen es durch Handlung:
Sämtliche Lichter in dem unheimlichen Haus erloschen auf einen Schlag. Sarah sah nicht einmal mehr ihre Hand vor den Augen. Instinktiv wich sie zurück, presste ihren Rücken gegen die Wand und rutschte zu Boden. Zitternd kauerte sie sich in die Ecke und lauschte auf das nahende Geräusch.
Die Technik besteht also darin, Charaktereigenschaften, wie eine Person ist, durch Handlung darzustellen und dem Leser nicht einfach nur mitzuteilen. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Suchen Sie nach geeigneten Bildern, die Eigenschaften zeigen. Ihre Fantasie wird Ihnen dabei helfen.
Königsweg 2: Darstellung durch Überzeichnung
Das Überzeichnen oder Übertreiben von Eigenschaften ist eine hervorragende Technik der Charakterbeschreibung. Denken Sie in diesem Zusammenhang an Karikaturisten, die den Erkennungseffekt von Personen, die sie mit nur wenigen Strichen darstellen, erreichen, indem sie ein oder zwei markante Körperteile überzeichnen, also übertrieben deutlich zum Ausdruck bringen. Da reichen die große krumme Nase, die extrem abstehenden Ohren oder die weit vorstehenden Zähne. Sofort wissen wir, wer gemeint ist.
Diese Technik machen sich auch Schriftsteller zunutze. Wenn Sie einen vollkommen neuen, unverwechselbaren Helden erschaffen wollen, dann dürfen Sie sich auf keinen Fall davor scheuen zu überzeichnen – und zwar frech wie Oskar! Das Mittel der Übertreibung ist für Sie als Schriftsteller wahrhaft unbezahlbar. Ein Beispiel:
War Ben erst einmal gestartet, dann brauchte er nur zwei Sekunden, um von null auf hundert zu sein.
Kein Mensch glaubt auch nur einen Augenblick daran, dass Ben 100 km/h laufen kann. ›Von null auf hundert‹ ist eine Redensart, um auszudrücken, dass etwas schnell geht. Aber diese Übertreibung bringt zum Ausdruck, dass Ben ein besonders guter Läufer ist. Wir können uns leichter ein Bild von Ben machen. Und darum geht es schließlich.
Aber auch hier Vorsicht: Ihre Überzeichnungen müssen sich immer im Rahmen des Glaubhaften bewegen und überzeugend bleiben.
Insider-Tipp: Besonders angebracht kann Übertreibung sein, wenn es darum geht, Kinder zu charakterisieren und unterscheidbar zu machen.
Sie können eine Vielzahl von Eigenschaften überzeichnen: Talente, Körperlichkeiten, geistige Fähigkeiten, Angewohnheiten, Ansichten, Einstellungen, Ängste, Behinderungen, Stärken, Schwächen. Es existieren praktisch keine Grenzen für Ihre Fantasie. Das Spektrum der Möglichkeiten, das sich Ihnen erschließt, ist schier unendlich.
Ein Ratschlag, der Ihnen hilfreich sein kann, um die Technik der Überzeichnung in den kleinen Finger zu kriegen, ist dieser: Setzen Sie sich in ein Straßencafé und beobachten Sie die Menschen. Versuchen Sie herauszufinden, welches Merkmal Ihnen an der einen oder anderen Person besonders auffällt. Stellen Sie sich nun dieselbe Person vor und übertreiben Sie das Ihnen aufgefallene Merkmal extrem. In diesem Moment haben Sie eine neue Figur erschaffen, die sich von allen anderen deutlich unterscheidet. Diese Übung wird Ihnen auch zeigen, dass es tatsächlich eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten gibt, eine Person nur durch Überzeichnen von Eigenschaften zu charakterisieren, sie also für den Leser leicht erkennbar zu machen und sie in sein Gedächtnis ›einzubrennen‹. Schauen wir uns noch ein Beispiel an:
Wenn Marc O’Sullivan einen Raum betrat, konnte man binnen einer Sekunde selbst das leiseste Atmen hören.
Wir erhalten einen Eindruck davon, dass Marc O’Sullivan eine imposante Erscheinung ist, welche die Aufmerksamkeit auf sich zieht, sobald er einen Raum betritt.
Der Trick hinter der Überzeichnung ist der, dass Leser an ›normalen‹ Menschen nicht interessiert sind. Gewöhnliche Durchschnittstypen berühren uns gefühlsmäßig nicht. Überzeichnete Figuren hingegen bewegen uns innerlich, berühren uns. Eine Person, die (nur) in Eile ist, interessiert uns nicht so stark wie jemand, der sich ›zu Tode hetzt‹. Die Kunst besteht darin, Figuren mit Eigenschaften und Merkmalen auszustatten und diese Kennzeichen dann zu übertreiben. Bleiben Sie dabei aber immer glaubwürdig. Beobachten Sie die Menschen und übertreiben Sie deren kennzeichnende Eigenschaften. Auf diese Weise erhalten Sie schnell eine einprägsame Figur.
Königsweg 3: Darstellung durch Vergleich
Ein wirklich hilfreiches Mittel, um im Kopf des Lesers ein Bild der Figur entstehen zu lassen, ist der Vergleich mit einer bekannten Größe oder Eigenschaft. Durch das Aufrufen einer geläufigen Größe in unserem Gedächtnis lassen wir unmittelbar ein Bild der Figur entstehen. Achten Sie aber darauf, dass Sie Vergleichsbilder verwenden, die der Leser auch mit Sicherheit kennt, sonst verwirren Sie ihn eher. So könnte ein Vergleich aussehen:
Sarah war so schlank, man hätte sie für Claudia Schiffer halten können.
Nick sprang die Treppe mit der Leichtfüßigkeit eines Grashüpfers hinauf.
Wenn Mama schrie, kam das für mich dem Start einer Boeing 747 gleich, so laut keifte sie.
Sie können auch einen vergleichenden oder übertreibenden Dialog verwenden, um eine Figur zu beschreiben und dem Leser einen deutlichen Eindruck von ihr zu vermitteln. Nehmen wir folgende Szene an: Harry sitzt auf einer Parkbank und wartet auf Maria, seine Frau. Maria ist verspätet, und Harry will ihr nahelegen, dass er von Unpünktlichkeit nicht viel hält. Ein Anfänger würde das vermutlich etwa so schreiben.
»Ich