Der leuchtende Schlüssel. Edgar Wallace

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Der leuchtende Schlüssel - Edgar Wallace


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Seit einiger Zeit war sein Verdacht gewachsen, da die Rechnungen bei der Kolonialwarenhandlung immer größer wurden. Binny hatte zwar erklärt, daß die Lebensmittelpreise in die Höhe gegangen seien, aber das war nach Lynes Meinung gelogen. Der Kerl gehörte zu diesen verdammt ruhigen Leuten, die vor ihrem Herrn kriechen, sich aber kein Gewissen daraus machen, ihn zu bestehlen. Es war höchste Zeit, daß er Binny entließ und einen anderen Butler engagierte.

      »Wann kommt dieser Bursche?« fragte er barsch.

      Binny schenkte am Nebentisch seinem Herrn gerade eine Tasse Tee ein. Er wandte den Kopf und sah ihn ungewiß an.

      »Wen meinen Sie? Die junge Dame ist um neun gekommen.«

      Hervey verzog verächtlich den Mund.

      »Sie Dummkopf, ich meine den Bankdirektor.«

      »Mr. Moran – um zehn.«

      »Bringen Sie mir den Brief – bringen Sie ihn sofort!«

      Binny stellte die Teetasse vor Mr. Lyne, blätterte in einem kleinen Stoß von Papieren, die auf dem offenen Sekretär lagen, und fand schließlich, was er suchte.

      »Lesen Sie vor – lesen Sie genau«, drängte der alte Mann.

      Sein Augenlicht war sehr schlecht geworden. Er konnte wohl noch hell und dunkel unterscheiden, an dem lichten Schein erkennen, wo das Fenster lag, ohne Hilfe die siebzehn Treppenstufen hinaufsteigen, die zu seinem Schlafzimmer führten, und seinen Namen unterschreiben. Aber das war auch alles.

      Binny las mit monotoner Stimme:

      »Sehr geehrter Mr. Lyne, es wird mir ein Vergnügen sein, morgen vormittag um zehn Uhr bei Ihnen vorzusprechen.

      Mit vorzüglicher Hochachtung

      Leo Moran«

      Hervey lächelte wieder.

      »So, es wird ihm ein Vergnügen sein?« wiederholte er mit schriller Stimme. »Meint der Kerl denn, ich bestelle ihn zum Vergnügen her?«

      Es klingelte an der Haustür. Binny ging nach unten und kam kurz darauf mit dem Besucher zurück.

      »Mr. Moran«, meldete er.

      »Nehmen Sie Platz, Mr. Moran.« Der alte Mann machte eine ungewisse Handbewegung. »Binny, bringen Sie einen Stuhl, und dann machen Sie, daß Sie hinauskommen – verstanden? Und horchen Sie nicht an der Tür, verdammt noch mal!«

      Der Besucher lächelte, als sich die Tür hinter Binny schloß. Die Worte schienen wenig Eindruck auf den Butler gemacht zu haben.

      »Mr. Moran, Sie sind mein Bankier.«

      »Ja, Mr. Lyne. Ich habe schon vor einem Jahr angefragt, ob ich einmal mit Ihnen sprechen könnte – vielleicht erinnern Sie sich daran?«

      »Natürlich. Aber ich mag keine Bankdirektoren sehen. Die sollen dafür sorgen, daß mein Geld Zinsen bringt. Das ist ihre Pflicht, dafür werden sie bezahlt. Haben Sie die Abrechnung?«

      Der andere zog einen Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und nahm zwei große, zusammengefaltete Bogen heraus.

      »Hier«, begann er. Sein Stuhl krachte, als er sich erhob.

      »Ich will die Abrechnung nicht sehen. Sagen Sie mir die Endsumme.«

      »Zweihundertundzwölftausendsiebenhundertsechzig Pfund und einige Shilling.«

      »Hm!« erwiderte Mr. Lyne zufrieden. »Und wie steht es mit den Wertpapieren?«

      »Nach dem jetzigen Kursstand sind sie sechshundertzweiunddreißigtausend Pfund wert.«

      »Ich will Ihnen sagen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte«, sagte Lyne, fügte aber sofort argwöhnisch hinzu: »Öffnen Sie doch einmal die Tür und sehen Sie zu, ob dieser verdammte Kerl horcht.«

      Der Besucher erhob sich, machte die Tür auf und schloß sie wieder.

      »Es ist niemand draußen.«

      Er lächelte, aber Mr. Lyne konnte das nicht beobachten.

      »So, es ist niemand draußen? Also, Moran, dann hören Sie einmal zu. Ich halte mich für einen sehr fähigen Mann. Damit will ich mich nicht rühmen; das ist eine Tatsache, die Sie selbst feststellen können. Ich traue niemandem, nicht einmal einem Bankdirektor. Meine Sehkraft ist nicht mehr besonders gut, und es fällt mir schwer, Rechnungen zu kontrollieren. Aber ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, das ich dauernd trainiere. Ich kann Zahlen unheimlich lange behalten, und ich hätte Ihnen bis auf einige Shilling genau die Summe nennen können, die Sie eben angaben.« Der alte Mann machte eine Pause und sah durch seine dicken Gläser zu dem Besucher hinüber, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß.

      »Hoffentlich spekulieren und spielen Sie nicht?«

      »Nein, Mr. Lyne.«

      Mr. Moran atmete erleichtert auf, als er sich wieder von dem Alten verabschieden konnte.

      Binny wurde durch ein Klingelzeichen seines Herrn in seinem Zimmer aufgestört. Als er nach oben kam, war der Besucher schon gegangen.

      »Sagen Sie, Binny, wie sah der Mann aus? Hatte er ein ehrliches Gesicht?«

      Der Butler dachte lange nach.

      »Er hatte ein ganz gewöhnliches Gesicht«, meinte er dann.

      Lyne war ärgerlich.

      »Bringen Sie das Frühstücksgeschirr weg. Wer kommt denn heute sonst noch?«

      Binny überlegte lange.

      »Ein gewisser Dornford.«

      »Ein Herr namens Dornford«, verbesserte ihn der Alte. »Er schuldet mir Geld, deshalb ist er ein Herr. Wann kommt er?«

      »Ungefähr um acht.«

      »Sie bleiben im Zimmer, wenn er kommt. Haben Sie mich verstanden? Er ist ein gemeiner Kerl – ein gefährlicher Mensch. Es ist gut, wenn Sie da sind.«

      »Jawohl.«

      6

      Arthur Jules, der sich stets sehr wichtig vorkam, war ein düsterer, verhältnismäßig kleiner junger Mann. Er trug ein Monokel, hatte eine tadellose Frisur und war immer so gekleidet, als ob er an einer großen Festlichkeit teilnehmen sollte.

      Als Attaché bei einer südamerikanischen Gesandtschaft befaßte er sich auf eigene Faust mit Diplomatie. In einem Land, wo die Leute mehr verdächtigt werden als in England, hätte man ihm vermutlich äußerst höflich seinen Paß zugestellt und ihn unter besonderer Aufsicht eines Detektivs in seine Heimat abgeschoben.

      Eines Tages saß er an seinem Fenster, von dem aus er die St. James Street übersehen konnte. Er strich seinen kleinen schwarzen Schnurrbart nachdenklich und unterhielt sich mit Jerry Dornford.

      Jedermann kannte Jerry. Er besaß all die angenehmen Umgangsformen, die begüterten Leuten einen Verschwender lieb und wert machen. Wie Jules war er Mitglied des Snells-Club. Er gehörte auch all den vornehmen Klubs an, in denen sich die oberen Zehntausend treffen, zahlte pünktlich seine Beiträge, und alle seine Schecks wurden von der Bank honoriert. Man konnte ihm nichts vorwerfen, er war bisher all seinen Verpflichtungen nachgekommen. Er war groß, trug elegante Kleidung, ging aber etwas vornübergeneigt. Seine braunen Haare lichteten sich auf dem Scheitel schon stark. Er hatte tiefliegende Augen und lächelte müde und nachsichtig, wenn er jemand ansah.

      Jerry hatte ein sehr flottes Leben hinter sich und brauchte viel Geld. Er war Junggeselle und lebte in einer kleinen Wohnung in der Half Moon Street, wo er auch gelegentlich seine Gesellschaften gab.

      Augenblicklich hatte er wieder einmal dringend Geld nötig, und Jules wußte, wie sehr er in der Klemme war. Die beiden hatten nur wenig Geheimnisse voreinander und kannten sich sehr gut.

      »Wie heißt denn eigentlich dieser Mann?«

      »Hervey Lyne.«

      »Hervey


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