Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Hermann Cohen

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Der Begriff der Religion im System der Philosophie - Hermann Cohen


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Begründung die zentrale Kritik der Soziologie, wie der Religion, durchführen. Auch der Begriff der Gesellschaft bildet das zentrale Problem der Ethik, wie der Begriff der Religion das der Soziologie.

      8. Und auch darin besteht die Analogie: daß das Problem des Religionsbegriffs ebensosehr das ganze weite Material der Religionsgeschichte als seine Vorbedingung umfaßt, wie der ethische Begriff der Gesellschaft das ganze weite Material der Soziologie. Aber darin allein besteht hier, wie dort, der Unterschied: das Material ist die negative Vorbedingung; der Begriff aber ist das Problem der positiven Schöpfung, die nur der Deduktion, niemals der Induktion gelingen kann. Die Tatsachen können niemals und nirgends den Begriff hervorbringen, der selbst vielmehr ihr eigenes geistiges Band — nein, schlechthin ihre geistige Erschaffung ist.

      Wo immer das Problem des Begriffs entsteht, da ist nichts anderes die Frage als der Sinn und der Wert eines Ursprünglichen, eines Ewigen, eines über alle Entwicklungsmöglichkeiten Hinausragenden, das nur Prinzip sein kann und Prinzip sein muß, ebensosehr für alle Erforschung der Erfahrung in ihren Tatsachen, wie für alles Erdenken ihrer Probleme. Es ist überall dieselbe Frage: ob die Forderung des a priori ein leerer Wahn ist, oder ob ohne sie alle Forschung ein blindes Suchen bleibt. Es ist überall nur die eine Frage: ob der Begriff nur als Idee gefunden werden kann, oder ob die Idee ein Trugbild ist und die Induktion allein den Begriff zu entdecken vermag. Bei jeder philosophischen Frage ist es das Recht des Idealismus, das in Frage steht.

      9. So wird der Begriff der Religion zu einem Problem der Philosophie.

      Wir fragen hiergegen nicht, ob die Religion selbst und die Theologie, als Religionswissenschaft, mit dieser Verweisung ihres Begriffs an die Philosophie einverstanden sein kann; wir setzen vielmehr voraus, daß sie damit einverstanden sein muß: weil ihre eigene Geschichte, dieser Überweisung zufolge, als ein Grenzgebiet der Philosophie sich vollzogen hat. Und es war gar nicht einmal immer Überweisung, die dabei stattfand, sondern in beiden Gebieten war gleichmäßig und urwüchsig dasselbe Problem lebendig. Im Mythos schon, der Urform alles Geistes, war Göttliches, mit allem Menschlichen verbunden und verwachsen, gleichsam Religion mit Philosophie. Und als die Kultur sich lichtete und abteilte, vermochte sich weder die Philosophie von allem Mythos, geschweige von allem Wesenhaften der Religion abzuschließen, noch die Religion in ihren Mysterien und nicht anders in ihrem offenbaren Kultus von den Spekulationen der Philosophie. Und so ist es für alle Folgezeit geblieben. Nicht nur die Philosophie hat den urwüchsigen Zusammenhang mit den religiösen Urgedanken festgehalten und immer neu ausgestattet; auch die Religion, sofern sie eine wissenschaftliche Gestaltung anstrebte, mußte in der Philosophie ihren Wahrheitsgrund und damit ihren Lebens- und Seelengrund immerdar erkennen und aufsuchen. Was wäre, was würde die Religion, wenn sie von anderen Quellen sich wollte entspringen, sich wollte auch nur speisen lassen als von denen, die den Born der Wahrheit bilden? Was wäre, was würde die Religion, wenn sie nicht mehr Wahrheit sein sollte, sein wollte? Und wie könnte sie anders ihren Anteil an der Wahrheit gewinnen und behaupten als durch den Anteil an der Philosophie? Soll es etwa wiederum eine zwiefache Wahrheit geben, eine für das Göttliche und eine andere für das Menschliche? Ist die Wahrheit nicht, wie unser philosophischer Dichter sagt, eine einzige, ungeteilte?

      10. Die Menschheit hat allezeit den Weg beschritten, den dieser Wegweiser nicht als Fragezeichen stehen ließ. Die Religion hat sich in allen ihren Höhepunkten mit echter Philosophie durchdrungen, und die Philosophie selbst hat nicht nur, wie im Platonischen Altertum, mit der Poesie der heimatlichen Götterwelt gespielt; und es ist auch nicht richtig, daß sie ganze Zeitalter hindurch sich nur in stumpfe Abhängigkeit von der theologischen Religion versetzt hätte; vielmehr ist eigenes Leben und Fortbilden der Philosophie in allen jenen Auseinandersetzungen mit der Religion zu erkennen; und es wäre förderlich auch für die Philosophie, wenn diese Erkenntnis mehr als bisher zum Problem der mittelalterlichen Forschung würde.

      Und auch für die Neuzeit muß es klarer herausgestellt, genauer zum eigentlichen Problem gemacht werden, welchen schöpferischen Anteil der religiöse Gedanke an den Formulierungen hat, die das Aussehen ursprünglich logischer Forderungen haben. Innerlichen Anteil hat die Religion an der Philosophie der Neuzeit. Es sei nur an die Ethik erinnert.

      11. Wie könnte es danach auffallen, daß der Philosophie ein innerer Anteil an der Religion zusteht? Man wird dies nicht so verstehen, daß demgemäß in der neueren Zeit die Religionsphilosophie als ein besonderer Zweig der Philosophie entstanden ist. Die vielen Zweige, die sich heute an dem alten Stamm ausbreiten, beweisen nichts für das echte Leben des Stammes, nichts für seine unvergängliche Wurzel; sie beweisen vielmehr ebenso die Abirrung der Geschichtsprobleme von der Ethik, als der Wurzel, aus der sie ihre Lebenssäfte ziehen, wie ehemals und jetzt wiederum die Naturphilosophie aus dem Mißverhältnis zur reinen Logik hervorgegangen ist.

      12. Der Anteil der Philosophie an der Religion ist beinah so alt wie beide selbst. Nur haben sich im Altertum schon die Relationen verändert, welche die Religion zur Philosophie einnehmen wollte. Bei den alten Klassikern waltet noch der Schleier der Naivetät über den zarten Fragen, und solange das Heidentum als Volksreligion herrschte, brauchte dieser Schleier nicht gelüftet zu werden; er kam ebensosehr der Philosophie, wie der Religion, zugute. Erst als das Judentum in Berührung kam mit dem Griechentum, mußte diese Diskretion aufhören; denn jetzt war die Einheit gebrochen zwischen dem in den Mythen und dem in den Keimen der Philosophie waltenden Volksgeiste.

      13. Philo ist gewiß über alle Maßen bestrebt, die Einheit zwischen Platon und Mose herzustellen, aber beide müssen ihm dennoch als verschiedene Autoritäten gelten, während Platon selbst noch ganz naiv mit den Mythen der Heimat seine Lehrgedanken durchzieht. Bei Philo schon werden Religion und Philosophie zu Grenzproblemen, und wenn auch er selbst noch die Religion von der Philosophie aufgesogen werden lassen möchte, so erhebt sich dagegen im jüdischen Monotheismus eine heterogene Potenz, die niemals ohne Rest in aller Idealisierung des Griechentums, des Platonismus selbst aufgehen kann. Mose wird zum Träger der Religion und Platon zu dem der Philosophie.

      14. Jede Differenz, die unter den Richtungen des Kulturbewußtseins auftritt, trägt Konflikte in sich. So ist es auch hier gekommen. Es ist aber verkehrt, wenn man die Selbständigkeit der beiden Mächte durch ihren Konflikt miteinander bedroht glaubt. Es ist falsch, daß durch die innigere Berührung mit der Philosophie die Religion ihren Auflösungsprozeß anträte. Es ist ebenso falsch, daß die Philosophie ihre Methodik und damit ihren logischen Charakter aufgäbe oder auch nur beeinträchtigte, wenn sie mit der Religion überhaupt ein Verhältnis eingeht. Dieses Verhältnis ist ihr eingeboren; und es ist ihre dauernde Aufgabe, stets von neuem dieses Verhältnis zu vollziehen, es zu kontrollieren und zu berichtigen. Es ist ein verhängnisvolles Vorurteil, wenn man der Klarstellung dieses Verhältnisses sich entziehen zu dürfen glaubt. Dadurch würde die Philosophie nur mit Mystik belastet, und in die Religion würde Intuition einschleichen.

      15. Die Philosophie muß als ein gleichartiger Faktor der Religion immer genauer und bestimmter zur Klarheit gebracht werden, wenn anders wahrhafte Kulturreife in der Philosophie herrschen soll. Es darf hier nicht anders vonstatten gehen, als es mit allen Grundmächten der Kultur ergangen ist. Von ihrer Faktizität gehen wir aus und fragen daraufhin nach ihrem Rechte. Dieser transzendentalen Inquisition haben sich Mathematik und Physik unterwerfen müssen und nicht minder auch Recht und Staat; und endlich das Kulturfaktum der Kunst: wie sollte die Religion als ein solches Faktum zu umgehen sein, das sich der Frage nach dem Rechtsgrunde ihres Bestehens und ihres Bestandes entziehen könnte?

      16. Die Logik ist immanent in aller Wissenschaft; in vorbildlicher Methodik aber enthüllt sie sich in der mathematischen Naturwissenschaft. In allen Geisteswissenschaften ist die Logik immanent; aber als eine neue Logik steigt für sie aus dem Bewußtsein des reinen Denkens herauf die Ethik, in der das reine Denken sich zum reinen Wollen entwickelt.

      Auch eine neue Art von Mathematik haben wir versucht, der Ethik zugrunde zu legen, indem wir


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