Eduard Mörike: Märchen, Erzählungen, Briefe, Bühnenwerke & Gedichte (Über 360 Titel in einem Band). Eduard Morike

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Eduard Mörike: Märchen, Erzählungen, Briefe, Bühnenwerke & Gedichte (Über 360 Titel in einem Band) - Eduard  Morike


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Mann! Meine Person ist Ihnen unbekannt, dennoch haben Sie, wie ich weiß, mein eigentliches Selbst bereits dergestalt kennengelernt und bis auf einen gewissen Grad sogar liebgewonnen, daß ich mich nun mit unabweislichem Vertrauen unter Ihre Stirne dränge. Doch, lassen Sie mich deutlich reden. Ich heiße Theobald Nolten und studiere in hiesiger Stadt ziemlich unbekannt die Malerei. Nun fand ich gestern in der aufgestellten Galerie unter andern ein Gemälde, das Opfer der Polyxena vorstellend, das mir auf den ersten Blick als eine innig vertraute Erscheinung entgegentrat. Es war, als stünde durch Zauberwerk hier ein früher Traum lebendig verkörpert vor meinem schwindelnden Auge. Diese schmerzvolle Königstochter schien mich so schwesterlich bekannt zu grüßen, ihre ganze Umgebung deuchte mir so gar nicht fremd, und doch, über das Ganze war ein Licht, ein Reiz gegossen, der nicht aus meinem Innern, der von einer höhern Macht, von den Olympischen selbst herabgestrahlt schien; ich zitterte, bei Gott! ich –«

      »Was?« unterbrach ihn Tillsen, »Sie wären – ja Sie sind der wunderbare Künstler, dem ich so vieles abzubitten –«

      »Nicht doch«, entgegnete jener feurig, »nein! der Ihnen Unendliches zu danken hat. O edelster Mann! Sie haben mich mir selbst enthüllt, indem Sie mich hoch über mich hinausgerückt und getragen. Sie weckten mich mit Freundeshand aus einem Zustande der dunkeln Ohnmacht, rissen mich auf die Sonnenhöhe der Kunst, da ich im Begriffe war, an meinen Kräften zu verzweifeln. Ein Elender mußte mich bestehlen, damit Sie Gelegenheit hätten, mir in Ihrem klaren Spiegel meine wahre, meine künftige Gestalt zu zeigen. So empfangen Sie denn Ihren Schüler an das väterliche Herz! Lassen Sie mich sie küssen, die gelassene Hand, welche auf ewig die verworrenen Fäden meines Wesens ordnete – mein Meister! mein Erretter!«

      So lagen sich beide Männer einige Sekunden lang fest in den Armen und von diesem Augenblicke an war eine lebhafte Freundschaft geschlossen, wie sie wohl in so kurzer Zeit zwischen zwei Menschen, die sich eigentlich zum ersten Male im Leben begegnen, selten möglich sein wird.

      »Erlauben Sie, mein Lieber«, sagte Tillsen, »daß ich erst zur Besinnung komme. Noch weiß ich nicht, bin ich mehr beschämt oder mehr erfreut durch Ihre herzlichen Worte. Ich werde Sie in der Folge noch besser verstehen. So sagen Sie fürs erste nur, wie verhält sich’s denn mit dem diebischen Schufte, dem wenigstens das Verdienst bleiben muß, uns zusammengeführt zu haben?«

      »Wohl! Hören Sie! Nach meiner Rückkehr aus Italien, es ist nun über ein Jahr, traf ich auf der Reise hieher, wo ich völlig fremd war, einen Hasenfuß, Barbier seiner Profession – er nannte sich Wispel –, der mir seine Dienste als Bedienter antrug, und ich nahm ihn aus einem humoristischen Interesse an seiner Seltsamkeit um so lieber auf, da er neben einem, daß ich so sage, universal-enthusiastischen Hieb, neben einem badermäßigen Hochmut, immer eine gewisse Gutmütigkeit zeigte, die in der Folge nur der borniertesten Eitelkeit weichen konnte; denn so wollt ich darauf schwören, er hatte mit jenen entwendeten Konzepten anfangs keine andere Absicht, als vor Ihnen den Mann zu machen.«

      »Allein er nahm doch Geld dagegen an?«

      »Und wenn auch; diese Spekulation ward sicherlich erst durch Ihr Anerbieten bei ihm erweckt.«

      »Aber er stellte sich völlig närrisch!«

      »Ich zweifle sehr, daß er es darauf anlegte, oder gesetzt, er legte es darauf an, so geschah es nur, nachdem er Ihnen bereits den interessanten Verdacht abgelauscht. Seiner Dummheit kam übrigens die List beinahe gleich; so wußte er mich unter einem ausgesuchten Vorwande zu einer Zeichnung aus dem Stegreife zu bewegen, die ohne Zweifel auch für Sie bestimmt war, und wozu ich mich selbst durch den angenehm proponierten Gegenstand angereizt fühlte. Wenn er Sie ferner durch den Schein eigener Bildung irregeführt hat, so begreif ich nur um so besser, warum er sich bei den Unterhaltungen, welche gelegentlich zwischen mir und einem Freunde vorkamen, immer viel im Zimmer zu schaffen machte. Er mag Ihnen auf diese Art manchen schlecht verdauten Brocken hingeworfen haben.«

      »Ach«, sagte Tillsen nicht ohne einige Beschämung, »freilich, dergleichen Äußerungen sahen mir dann immer verdächtig genug aus, wie Hieroglyphen auf einem Marktbrunnenstein, ich wußte nicht, woher sie kamen. Aber ein abgefeimter Bursche ist es doch! Und wo steckt denn der Schurke jetzt?«

      »Das weiß Gott. Seit einem halben Jahre hat er sich ohne Abschied von mir beurlaubt; etliche Wochen später entdeckt ich die große Lücke in meinem Portefeuille.«

      »Ich will sie wieder ausfüllen!« erwiderte Tillsen mit Heiterkeit, indem er den Freund vor das verhängte Bild führte. »Ich wollte es diesen Morgen noch zur öffentlichen Ausstellung wegtragen lassen; doch, es ist nun Ihr Eigentum. Lassen Sie sehen, ob Sie auch hinter diesem Tuche Ihre Bekannten erkennen.«

      Nolten hielt die Hand des Malers an, während er das Geständnis ablegte, daß er vorhin der Versuchung nicht widerstanden, den Vorhang um einige Spannen zurückzustreifen, daß er ihn aber, wie von dem Gespenste eines Doppelgängers erschreckt, sogleich wieder habe fallen lassen, ohne die Überblickung des Ganzen zu wagen.

      Jetzt schlug Tillsen mit einem Male die Hülle zurück und trat seitwärts, um den Eindruck des Stückes auf den Maler zu beobachten. Wir sagen nichts von der unbeschreiblichen Empfindung des letztern und erinnern den Leser an das wunderliche Geisterkonzert, wovon ihm der alte Baron früher einen Begriff gegeben. Bewegt und feierlich gingen die Freunde auseinander.

      Die umständlichere Erzählung dieser Begebenheit mußte vorangeschickt werden, um die rasche und erfreuliche Entwicklung desto begreiflicher zu machen, welche es von nun an mit der ganzen Existenz des jungen Künstlers nahm. War es ein gewisser Kleinmut oder Eigensinn, grillenhafter Grundsatz, was ihn bisher bewegen mochte, mit seinem Talente unbeschrieen hinter dem Berge zu halten, bis er dereinst mit einem höhern Grade von Vollendung hervortreten könnte: soviel ist gewiß, daß die Behandlung der Ölfarbe ihm bisher große Schwierigkeiten entgegensetzte, jedoch, wie Tillsen fand, nicht so große, als unser bescheidener Freund sich gleichsam selbst gemacht hatte. Vielmehr entdeckte jener auch diesfalls an den Versuchen des letztern die überraschendsten Fortschritte, und gerne faßte er den Entschluß zur förderlichen Mitteilung einzelner Vorteile. In kurzem stand Nolten, was Geschicklichkeit betrifft, jedem braven Künstler gleich, und in Absicht auf großartigen Geist hoch über allen. Seine Werke, sowie seine Empfehlung durch Tillsen, verschafften ihm sehr schätzbare Verbindungen, und namentlich erwies der Herzog Adolph, Bruder des Königs, sich gar bald als einen freundschaftlichen Gönner gegen ihn.

      War Theobald auf diese Weise durch die rasche und glänzende Veränderung seines bisherigen Zustandes gewissermaßen selbst überrascht und anfänglich sogar verlegen, so verwunderte er sich in der Folge beinahe noch mehr über die Leichtigkeit, womit er sich in seine jetzige Stellung gewöhnte und darin behauptete. Allerdings brauchte er die Achtung, durch die er sich vor andern ausgezeichnet sah, nur als etwas Verdientes hinzunehmen, so kam sie ihm auch ganz natürlich zu.

      Durch die Vermittlung des Herzogs erhielt er Zutritt im Hause des Grafen von Zarlin, der sich ohne eigene Einsichten, und wie mehrere behaupteten, aus bloßer Eitelkeit als einen leidenschaftlichen Freund jeder Gattung von Kunst hervortat, und dem es wirklich gelang, einen Zirkel edler Männer und Frauen um sich zu versammeln, worin geistige Unterhaltung aller Art, namentlich Lektüre guter Dichterwerke vorkam. Die lebendig machende Seele des Ganzen jedoch war, ohne es zu wollen, die schöne Schwester des Grafen, Constanze von Armond, die junge Witwe eines vor wenigen Jahren gestorbenen Generals. Ihre Liebenswürdigkeit wäre mächtig genug gewesen, den Kreis der Männer zu beherrschen und Gesetze vorzuschreiben, aber die angenehme Frau blieb mit der sanften Wirkung zufrieden, welche von ihrer Person auf alle übrigen Gemüter ausging, und sich allgemein in der erwärmteren Teilnahme an den Unterhaltungsgegenständen offenbarte; ja, Constanze schien ihrer natürlichen Lebendigkeit öfters einige Gewalt anzutun, um die Huldigung von sich abzuleiten, womit die Herren sie nicht undeutlich für die Königin der Gesellschaft erklärten. Auch Theobald fühlte sich insgeheim zu ihr hingezogen, und während der anderthalb Monate, worin er jede Woche drei Abende in ihrer Nähe zubringen durfte, entwickelte sich dies heitere Wohlgefallen zu einem stärkeren Grade von Zuneigung, als er sich selbst eingestehen durfte. Die Reize ihrer Person, die Feinheit ihres gebildeten Geistes, verbunden mit einem lebhaften, selbst ausübenden Interesse für seine Kunst, hatten ihn zu ihrem leidenschaftlichen Bewunderer


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