Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.krankhaften Schwärmerei angenommen hatte. Sie hütete sich, von diesem Überschwang die Eltern etwas merken zu lassen, als würde dadurch die Gefahr einer Trennung heraufbeschworen. Aber wenn jene es auch an äußerer Zärtlichkeit für ihr Kind nicht fehlen ließen, Theresen entging es nicht, daß dieses im Grunde ihnen doch nicht viel mehr bedeutete als eine Art von Spielzeug, freilich ein sehr lebendiges und köstliches. Sicher war, daß sie ihr Glück in seiner ganzen Größe nicht zu schätzen wußten. Der Kleine selbst schien in seinen Gefühlen gegenüber den Eltern und denjenigen gegenüber seiner Erzieherin kaum einen Unterschied zu machen und nahm nach Art verwöhnter Kinder alle ihm dargebrachte Liebe und Vergötterung wie etwas Selbstverständliches hin.
224 Im Laufe des Winters erkrankte Frau Knauer an Lungen-und Rippenfellentzündung und schwebte einige Tage in Lebensgefahr. Obwohl Therese ihr alles erdenkliche Gute wünschte, vermochte sie gewisse, nicht in Worte, kaum in Gedanken zu fassende Hoffnungen nicht völlig zu unterdrücken. Zwar hatte Herr Knauer niemals auch nur durch einen Blick vermuten lassen, daß Therese als Frau im geringsten auf ihn wirke; ihr selbst war er in seiner leeren Freundlichkeit so fremd geblieben wie je und als Mann eine fast widerwärtige Erscheinung, aber sie wußte: wenn er nach dem Tode seiner Frau um ihre Hand anhielte, sie würde keinen Moment zögern, die Stiefmutter Roberts zu werden. Um diesen Preis hätte sie sich ohne weitere Überlegung auch von Alfred losgesagt, um so eher, als sie deutlich fühlte, daß dieses Verhältnis, wenn auch vorläufig nichts auf ein nahes Ende hindeutete, als Liebesbeziehung keineswegs zu Dauer bestimmt war.
Frau Knauer erholte sich langsam, war als Rekonvaleszentin höchst reizbar geworden, und es gab etliche, freilich unbeträchtliche Auseinandersetzungen zwischen ihr und Therese, an die diese im Augenblick nachher nicht mehr dachte. So geschah es einmal, daß Therese einen Einkauf für Frau Knauer hätte besorgen sollen. Sie fühlte sich an diesem Tage nicht wohl und schickte sich an, dem Stubenmädchen diesen Auftrag zu überweisen. Frau Knauer wollte nichts davon wissen, Therese erwiderte lebhafter, als es sonst ihre Art war, und Frau Knauer stellte ihr anheim, das Haus zu verlassen, wann es ihr beliebe. Therese nahm diese Äußerung nicht ernst, sie war ja hier überhaupt nicht mehr zu entbehren, und man konnte doch nicht daran 225 denken, sie von Robert oder Robert von ihr zu entfernen. Und es war auch tatsächlich in den nächsten Tagen weder im Benehmen der Frau noch des Herrn Knauer ihr gegenüber eine Veränderung, eine Entfremdung oder gar eine Feindseligkeit zu bemerken. Schon war Therese daran, den kleinen Zwischenfall völlig zu vergessen, als eines Tages Frau Knauer wie von einer Tatsache, über die eine Diskussion gar nicht mehr möglich war, von dem bevorstehenden Scheiden Theresens aus dem Hause sprach. Sie erkundigte sich mit der größten Liebenswürdigkeit, ob Therese schon eine neue Stellung gefunden, und bemerkte, daß sie selbst während der kommenden Sommermonate auf dem Land ganz ohne Erzieherin auszukommen gedächte. Therese war überzeugt, daß eben sie für den Herbst als Erzieherin ausersehen sei, aber sie war zu stolz, sich selber anzutragen oder auch nur eine Frage zu stellen, und so vergingen die Tage wieder ungenützt. Noch immer war es ihr unmöglich zu glauben, daß sie wirklich fort sollte; eine solche Grausamkeit, nicht nur gegen sie, sondern auch gegen den kleinen Robert, war ja nicht auszudenken; und wenn nicht früher, davon war sie überzeugt, im letzten Augenblick noch würde man sie zurückzuhalten suchen. So schob sie alle Vorbereitungen hinaus bis zum letzten Tag, an dessen Morgen sie das erlösende Wort von Frau Knauer zu hören hoffte. Doch diese stellte nur die freundliche Frage an sie, ob sie noch das Mittagessen mit ihnen einnehmen wolle. Therese fühlte Tränen in ihre Augen, ein Schluchzen in ihre Kehle steigen, vermochte nur hilflos zu nicken, und als Frau Knauer, doch in einer plötzlichen Verlegenheit, das Zimmer verlassen hatte, sank Therese 226 vor Robert, der eben an seinem kleinen weißen Tischchen die Frühstückschokolade trank, schluchzend in die Knie, faßte seine Händchen und küßte sie hundertmal. Das Kind, zu dem man nur von einem vorübergehenden Urlaub des Fräuleins gesprochen, nahm den Schmerzensausbruch Theresens, dessen Ausmaß zu beurteilen es nicht imstande war, ohne Erstaunen hin, fühlte sich aber doch zu einer Art dankbarer Erwiderung verpflichtet und küßte sie auf die Stirn. Als Therese aufsah und die kühlen gleichgültigen Augen des verwöhnten Knaben auf sich gerichtet sah, durchschauerte es sie plötzlich, sie fuhr dem Kind wie scherzend mit den Fingern durch die Haare, erhob sich langsam, trocknete die Augen und war ihm endlich, wie gewöhnlich, beim Anziehen behilflich. Dann begleitete sie ihn in das Zimmer der Mutter, der er vor dem täglichen Spaziergang Adieu zu sagen pflegte, und stand dabei, mit einem freundlich starren Gesicht. Auf dem Spaziergang plauderte Therese mit dem Kind wie immer; sie hatte auch nicht vergessen, eine Semmel zum Füttern der Schwäne vom Hause mitzunehmen. Robert traf ein paar Gespielen, Therese unterhielt sich etwas herablassend mit einer ihr oberflächlich bekannten Bonne und fragte sich in irgendeinem Augenblick, aus welchem Grunde eigentlich sie sich immer wieder ihren Berufs-, ihren Schicksalsgenossinnen innerlich überlegen fühlte. War sie selbst etwas anderes, etwas Besseres? War sie nicht ein ebenso heimatloses Geschöpf wie all diese andern, die, ob sie nun Kindermädchen, Bonnen oder Gouvernanten hießen, in der Welt herumgestoßen wurden, von einem Haus ins andere, und die, auch wenn sie die Pflichten gegen ein ihnen anvertrautes Kind mütterlicher 227 erfüllten, als die eigene Mutter es wollte oder vermochte, – ja, auch wenn sie ein Kind geliebt oder mehr geliebt hatten als ihr eigenes, auf jenes doch nicht das geringste Recht besaßen. Sie lehnte sich in ihrem Herzen auf, fühlte sich hart, beinahe böse werden, und plötzlich rief sie Robert, der mit anderen Kindern längs des Teiches hinlief und sich etwas bequem, wie es seiner Natur entsprach, fangen ließ, bevor er noch ermüdet war, mit ungewohnter Strenge an; es war später geworden als sonst und höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Er kam sofort, folgsam und innerlich unberührt, und man begab sich auf den Heimweg.
Nach dem Mittagessen bat Therese Frau Knauer um die Erlaubnis, in dieser Nacht noch hier schlafen zu dürfen. Frau Knauer erteilte sie ihr ohne weiteres, doch war ihr anzumerken, daß sie sich dabei etwas gnädig vorkam. Therese versprach, als wäre sie dazu verpflichtet, morgen früh das Haus zu verlassen, ohne Robert noch einmal zu sehen. Herr Knauer dankte Theresen für die musterhaften Dienste, die sie geleistet, er hoffe, sie manchmal wiederzusehen, sie würde, mit ihrem Buben, im Hause immer willkommen sein.
Alfred gegenüber, zu dem sie sich in den Nachmittagsstunden dieses Tages flüchtete, machte sie kein Hehl aus ihrer Verzweiflung. Sie erklärte, daß sie diese Existenz überhaupt nicht mehr zu ertragen imstande sei, daß sie irgendeinen anderen Beruf ergreifen wolle, daß sie nach Salzburg zu ihrer Mutter ziehen werde. Alfred setzte ihr geduldig auseinander, daß sie ja Zeit habe zu überlegen; diesen Sommer müsse sie jedenfalls ganz ihrer Erholung widmen; sie solle ein paar Wochen in Salzburg und eine Zeit mit Franzl verbringen, am 228 besten in Enzbach, wo sie ja immer wieder bei Frau Leutner freundliche Aufnahme finden würde. Durch einen Schleier von Tränen blickte sie in Alfreds Antlitz und merkte, daß er mit gleichgültigen, ja gelangweilten Augen über sie hinweg oder durch sie hindurch sah, ganz in der gleichen Art, wie es Herr Knauer, wie es Frau Knauer, wie es wenige Stunden vorher ihr geliebter kleiner Robert getan. Ihr Befremden, ihre innere Qual entging ihm nicht; er lächelte befangen, bemühte sich, zärtlich zu sein, sie nahm es hin, denn sie lechzte nach Liebe. Und zugleich fühlte sie, daß heute, auch wenn sie noch Jahre, wenn sie noch das ganze Leben lang mit Alfred zusammenbliebe, daß in diesem Augenblick der Abschied, der große Abschied anfing. Wie er es schon öfters bisher ohne Erfolg getan, bot ihr Alfred für die nächsten Monate seine Unterstützung an, die sie diesmal nicht zurückweisen konnte.
67
Am nächsten Morgen verließ sie das Haus. Sie fuhr nach Salzburg und wurde von der Mutter herzlich aufgenommen. Es schien Theresen diesmal, als hätte alles Krankhafte, Zerfahrene, Unreine im Wesen der Mutter, das Therese so oft peinlich und schmerzlich berührt hatte, sich in ihre Bücher hineingezogen und sich darin verdichtet; und sie selbst sei nun eine ganz vernünftige, brave alte Frau geworden, mit der man nicht nur gut auskommen, sondern die man sogar liebgewinnen konnte. Sie sprach die Absicht aus, nach Wien zu übersiedeln: sie habe mehr und vielfältigere Anregung nötig, als in Salzburg zu finden sei; 229 dazu kam, daß Karl sich verlobt hatte und sie davon träumte, als alternde Frau in der Nähe oder gar im Kreise heranwachsender Enkelkinder zu leben. Wieder ließ sie sich von Therese