Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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hatte, – wissende, schwermütige Blicke, die ihn beinahe durchschauerten. Er empfahl sich bald, fühlte einen unbegreiflich fremden Händedruck von Else, gleichgültig-liebenswürdige von den andern und ging.

      Wie das nur zugeht, dachte er im Wagen, der ihn zu Heinrich führte. Die Leute wußten alles früher als er selbst. Sie hatten von seinem Verhältnis mit Anna gewußt, ehe es angefangen – und jetzt wußten sie wieder früher als er, daß es zu Ende war. Er hatte nicht übel Lust, ihnen allen zu beweisen, daß sie sich irrten. Freilich, in solch einer Lebenssache durfte man sich durch Trotz am wenigsten bestimmen lassen. Es war gut, daß nun ein paar Monate kamen, in denen er sich wieder sammeln, alles reiflich erwägen konnte. Auch für Anna würde es gut sein; für sie vielleicht ganz besonders. Der gestrige Spaziergang mit ihr im Regen über die feuchtbräunlichen Straßen fiel ihm wieder ein und erschien ihm wie etwas unsagbar Trauriges. Ach, die Stunden in dem gewölbten Zimmer, in das von drüben durch den wallenden Schneevorhang die Orgel hereinklang! Wo waren sie! Diese und so viele andre wundervolle Stunden, wo waren sie hin! Er sah sich und Anna im Geiste wieder, ein junges Paar auf der Hochzeitsreise, durch Gassen wandeln, in denen der wunderbare Hauch der Fremde war; banale Hotelräume, in denen er nur für kurze Tage mit ihr geweilt, tauchten vor ihm plötzlich wieder auf und waren wie geweiht vom Duft der Erinnerung… Dann erschien ihm die Geliebte auf einer weißen Bank, unter schweren Ästen, die hohe Stirn von einer trügerischen Ahnung sanfter Mütterlichkeit umflossen – und endlich stand sie da, ein Notenblatt in der Hand und weiße Vorhänge bewegten sich leise im Winde. – Und als er sich bewußt wurde, daß es dasselbe Zimmer war, in dem sie jetzt seiner wartete – und daß nicht viel mehr als ein Jahr verflossen; seit jener abendlichen Spätsommerstunde, da sie, von ihm begleitet, sein Lied zum erstenmal ihm vorgesungen – atmete er in seiner Wagenecke schwer und beinahe angstvoll auf.

      Als er ein paar Minuten drauf bei Heinrich im Zimmer stand, bat er ihn, dies nicht als Besuch anzusehen. Nur die Hand wollte er ihm drücken – morgen vormittags wenn’s ihm recht sei, wollte er ihn abholen zu einem Spaziergang… Ja – dies fiel ihm während des Redens ein – zu einer Art von Abschiedsspaziergang im Wald von Salmansdorf.

      Heinrich war einverstanden, bat ihn nur ein paar Augenblicke zu verweilen. Georg fragte ihn scherzend, ob er sich schon von seinem Mißerfolg von heute Morgen erholt hätte.

      Heinrich wies auf den Schreibtisch, wo lose Blätter lagen, die mit großen, erregten Schriftzeichen bedeckt waren. »Wissen Sie, was das ist? Den Ägidius habe ich mir wieder hergenommen. Und gerade, bevor Sie kamen, ist mir ein ziemlich möglicher Schluß eingefallen. Wenn es Sie interessiert, so erzähl ich Ihnen morgen mehr davon.«

      »Gewiß. Ich bin sehr gespannt. Das ist übrigens hübsch, daß Sie sich gleich wieder an eine Arbeit gemacht haben.«

      »Ja, lieber Georg, ganz allein bin ich nicht gern. Ich muß mir möglichst rasch Gesellschaft verschaffen, nach meiner Wahl… sonst kommt eben wer will, und man möchte doch nicht für jedes Gespenst zu sprechen sein.«

      Georg erzählte, daß er Leo besucht und ihn so heiter angetroffen, wie er es kaum vermutet hätte.

      Heinrich lehnte am Schreibtisch, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, mit leicht gesenktem Kopf; die beschirmte Lampe zeichnete von unten unsichere Schatten in sein Gesicht. »Warum haben Sie’s nicht erwartet, ihn heiter zu finden? Uns… mir wenigstens ging es wahrscheinlich gerade so.«

      Georg saß auf der Lehne eines schwarzledernen Fauteuils, die Beine übereinandergeschlagen, Hut und Stock in der Hand. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er, »aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, mir war es trotzdem sonderbar zu denken, während ich sein frohes Gesicht sah, daß er ein Menschenleben auf dem Gewissen hat.«

      »Das heißt«, sagte Heinrich und begann im Zimmer hin und her zu gehen, »es ist einer der Fälle, wo die Beziehung von Ursache und Wirkung so einleuchtend ist, daß man ruhig sagen darf: ›Er hat getötet‹, ohne daß es beinahe nach einem Wortspiel aussähe… Im ganzen aber, finden Sie nicht, Georg, sehen wir diese Dinge doch ein bißchen oberflächlich an. Wir müssen einen Dolch blitzen sehen, eine Kugel pfeifen hören, um zu begreifen, daß ein Mord geschehen ist. Als wär nicht einer, der jemanden sterben läßt, vom Mörder oft durch weiter nichts unterschieden, als durch einen höhern Grad von Bequemlichkeit und Feigheit…«

      »Machen Sie sich am Ende Vorwürfe, Heinrich? Wenn Sie dran geglaubt hätten, daß es so kommen mußte – Sie hätten sie ja doch nicht – sterben lassen.«

      »Vielleicht. Ich weiß nicht. Aber eins kann ich Ihnen sagen, Georg, wenn sie noch lebte… das heißt, wenn ich ihr verziehen hätte, wie Sie sich gelegentlich auszudrücken beliebten, so käme ich mir schuldiger vor, als ich mir heute erscheine. Ja, ja, so ist es nun einmal. Ich will’s Ihnen gar nicht verhehlen, Georg, es gab eine Nacht… ein paar Nächte gab es, da war ich wie vernichtet vor Schmerz, vor Verzweiflung, vor… nun, andre hätten es eben für Reue gehalten. Es war aber nichts derart. Denn mitten in meinem Schmerz, in meiner Verzweiflung hab ich’s ja gewußt, daß dieser Tod etwas Erledigendes, etwas Versöhnendes, etwas Reines bedeutete. Wär ich schwach gewesen, oder weniger eitel… wie Sie’s eben auffassen wollen… wär sie wieder meine Geliebte geworden, so wäre viel schlimmeres gekommen, als dieser Tod, auch für sie… Ekel und Qual, Wut und Haß wären um unser Bett gekrochen… unsere Erinnerungen wären verfault, Stück für Stück, ja, bei lebendigem Leibe wäre unsere Liebe verwest. Es durfte nicht sein. Ein Verbrechen wär es gewesen, dieses todkranke Verhältnis weiterzufristen, so wie es ein Verbrechen ist – und in der Zukunft auch so gelten wird – das Leben eines Menschen hinzufristen, dem ein qualvolles Sterben bestimmt ist. Das wird Ihnen jeder vernünftige Arzt sagen. Und darum bin ich sehr fern davon, mir Vorwürfe zu machen. Ich will mich auch nicht vor Ihnen oder sonst jemandem auf der Welt rechtfertigen, aber es ist nun einmal so: ich kann mich nicht schuldig fühlen. Es geht mir ja manchmal sehr schlimm, aber mit Schuldgefühlen hat das nicht das Geringste zu tun.«

      »Sie sind damals hingereist?« fragte Georg.

      »Ja. Ich bin hingereist. Ich bin sogar dabeigestanden, als man den Sarg in die Erde senkte. Ja. Mit der Mutter zusammen bin ich hingefahren.« Er stand am Fenster, ganz im Dunkel und schüttelte sich. »Nein, nie werd ich es vergessen. Übrigens ist es auch nur eine Lüge, daß sich Menschen in einem gemeinsamen Leid finden. Nie finden sich Menschen, wenn sie nicht zueinander gehören. Noch ferner werden sie einander in schweren Stunden. Diese Fahrt! Wenn ich mich daran erinnere! Ich hab übrigens beinahe die ganze Zeit gelesen. Es war mir unerträglich, mit der dummen, alten Person zu reden. Man haßt doch niemanden mehr als jemand gleichgültigen, der einem Mitleid abfordert. Wir sind auch an ihrem Grab zusammen gestanden, die Mutter und ich. Ich, die Mutter, und ein paar Komödianten von dem kleinen Theater… Und nachher bin ich im Wirtshaus gesessen mit ihr allein, nach dem Begräbnis. Ein Leichenschmaus zu zweien. Eine hoffnungslose Geschichte, sag ich Ihnen. Wissen Sie übrigens, wo sie begraben liegt? An Ihrem See, Georg. Ja. Ich habe öfter an Sie denken müssen. Sie wissen ja, wo der Friedhof liegt. Keine hundert Schritte weit vom Auhof. Man hat eine entzückende Aussicht auf unsern See, Georg; allerdings nur wenn man lebendig ist.«

      Georg empfand ein leises Grauen. Er stand auf. »Ich muß Sie leider verlassen, Heinrich. Ich werde erwartet. Sie verzeihen.«

      Heinrich trat aus dem Dunkel des Fensters hervor, zu ihm. »Ich danke Ihnen sehr für Ihren Besuch. Also morgen, nicht wahr? Sie gehen jetzt wohl zu Anna? Bitte grüßen Sie sie herzlich. Ich höre ja, daß es ihr gut geht. Therese erzählte mir’s.«

      »Ja, sie sieht vortrefflich aus. Sie hat sich vollkommen erholt.«

      »Das freut mich. Also auf morgen, nicht wahr? Ich freu mich sehr, daß ich Sie noch einmal sehen kann, eh Sie abreisen. Sie müssen mir auch noch allerlei erzählen. Ich habe ja wieder einmal nichts getan, als von mir geredet.«

      Georg lächelte. Als wenn er das von Heinrich nicht gewohnt gewesen wäre! »Auf Wiedersehen«, sagte er und ging.

      Manches von dem, was Heinrich gesprochen, klang in Georg nach, als er wieder im Wagen saß. »Wir müssen einen Dolch blitzen sehen, um zu begreifen, daß ein Mord geschehen ist.« Georg fühlte, daß vom Sinn dieser Worte eine gleichsam unterirdische,


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