Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.des Kindes mit ihm noch kein Wort gesprochen, daß sie sogar in ihren Briefen jede Andeutung nicht nur auf den unglücklichen Ausgang, sondern auch auf den ganzen Zeitraum, da sie das Kind unter dem Herzen getragen, vollkommen vermieden hatte. Der Wagen näherte sich dem Ziel. Warum klopft mir das Herz, dachte Georg. Freude?… Schlechtes Gewissen?… Heut mit einemmal! Sie kann mir doch die Schuld nicht geben…? Was für Unsinn. Ich bin abgespannt und erregt zugleich, das ist es. Ich hätte nicht herkommen sollen. Warum hab ich all diese Menschen wiedergesehen? War mir nicht, trotz aller Sehnsucht, tausendmal wohler in der kleinen Stadt, wo ein neues Leben für mich angefangen hatte…? Irgendwo anders hätte ich mit Anna zusammentreffen sollen. Vielleicht fährt sie mit mir fort… Dann kann am Ende alles noch gut werden. Ist denn irgend etwas schlecht…? Sind unsere Beziehungen am Ende auch krank, und ist es ein Verbrechen, sie weiterzufristen…? Das könnte zuweilen eine bequeme Ausrede sein.
Als er bei Rosners eintrat, saß die Mutter allein am Tische, sah von einem Buche auf und klappte es zu. Über den Tisch, gleichmäßig nach allen Seiten, glitt von oben der Schein einer leicht hin und her schwingenden Lampe. Josef erhob sich aus einer Divanecke. Anna trat eben aus ihrem Zimmer, strich mit beiden Händen über das hochgekämmte, gewellte Haar, begrüßte Georg mit leichtem Kopfneigen und hatte für ihn in diesem Augenblick mehr von einer Erscheinung als von einer wirklichen Gestalt. Georg reichte allen die Hand und erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Rosner.
»Es geht ihm nicht grad schlecht«, sagte Frau Rosner. »Aber aufstehen kann er halt schwer.«
Josef entschuldigte sich, daß er schlafend auf dem Divan betroffen worden war. Er mußte den Sonntag benutzen, um sich auszuruhen. Er bekleidete eine Stellung bei seiner Zeitung, die ihn nachts manchmal bis drei festhielt.
»Er ist jetzt sehr fleißig«, bestätigte auch die Mutter.
»Ja«, sagte Josef bescheiden, »wenn man gewissermaßen einen Wirkungskreis hat…« Er bemerkte weiter, daß der »Christliche Volksbote« sich einer immer größern Verbreitung erfreue, sogar draußen im Reich. Dann richtete er an Georg einige Fragen über dessen neuen Aufenthaltsort, interessierte sich lebhaft für Bevölkerungszahl, Zustand der Straßen, Verbreitung des Radfahrsports und Umgebung.
Frau Rosner ihrerseits erkundigte sich höflich nach der Zusammenstellung des Repertoires, Georg gab Auskunft, bald war ein Gespräch im Gange, an dem sich auch Anna sachlich beteiligte, und Georg fand sich plötzlich zu Besuch in einer Bürgerfamilie von angenehmen Umgangsformen, in der die Tochter des Hauses musikalisch war. Die Unterhaltung gelangte endlich dahin, daß Georg sich zur Äußerung des Wunsches veranlaßt fand, die junge Dame wieder einmal singen zu hören – und er mußte sich gleichsam besinnen, daß es ja seine Anna war, deren Stimme zu vernehmen ihn verlangt hatte.
Josef entschuldigte sich; ein Rendezvous im Kaffee mit Klubgenossen rief ihn ab… »Wissen sich Herr Baron noch zu erinnern… die flotte Gesellschaft auf der Sophienalpe?«
»Gewiß«, sagte Georg lächelnd. Und er zitierte: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ…«
»Der wollte keine Knechte«, ergänzte Josef. »Aber das singen wir schon lange nicht mehr. Es ist zu verwandt mit der ›Wacht am Rhein«; und man soll uns nicht mehr nachsagen, daß wir über die Grenze schielen. Es hat große Kämpfe gegeben bei uns im Ausschuß. Ein Herr hat sogar demissioniert. Er ist nämlich Solizitator in der Kanzlei vom Doktor Fuchs, dem deutschnationalen Abgeordneten. Ja, es ist halt alles Politik.« Er zwinkerte. Man sollte nicht glauben, daß er den Schwindel noch ernst nahm, jetzt da er selbst in die Maschinerie des öffentlichen Lebens Einblick hatte. Mit der kaum mehr überraschenden Bemerkung, daß er überhaupt Geschichten erzählen könnte, empfahl er sich. Frau Rosner fand es an der Zeit, nach ihrem Gatten zu sehen.
Georg saß Anna gegenüber, allein mit ihr an dem runden Tisch, über den der Schein der Hängelampe floß.
»Ich danke dir für die schönen Rosen«, sagte Anna, »ich hab sie drin in meinem Zimmer.« Sie erhob sich, und Georg folgte ihr. Er hatte ganz vergessen, daß er ihr Blumen geschickt hatte. In einem hohen Glas, vor dem Spiegel standen sie, dunkelrot, und spiegelten farblos dunkel sich ab. Das Pianino war offen, Noten waren aufgeschlagen, zwei Kerzen brannten zu den Seiten. Sonst war nur so viel Licht in dem Raum, als durch den breiten Türspalt aus dem Nebenzimmer hereinfiel.
»Du hast gespielt, Anna?« er trat näher hin. »Die Arie der Gräfin? Auch gesungen?«
»Ja. Versucht.«
»Geht’s?«
»Es fängt an… kommt mir vor. Na, wir werden ja sehen. Aber sag mir vor allem, was du heut den ganzen Tag gemacht hast.«
»Gleich. Wir haben uns ja noch gar nicht begrüßt.« Er umarmte und küßte sie.
»Lang ist’s her«, sagte sie, an ihm vorbeilächelnd.
»Also«, fragte er lebhaft, »fährst du mit mir?«
Anna zögerte. »Aber wie denkst du dir denn eigentlich die Sache, Georg?«
»Sehr einfach. Morgen nachmittag können wir fortfahren. Wahl des Ortes bleibt dir überlassen. Reichenau, Semmering, Brühl, wohin du willst… Und übermorgen früh würd ich dich zurückbegleiten.« Irgend was hielt ihn ab, von dem Telegramm zu reden, das ihm volle drei Tage zur Verfügung stellte.
Anna sah vor sich hin. »Es wär ja schön«, sagte sie tonlos, »aber es wird halt nicht möglich sein, Georg.«
»Wegen deines Vaters?«
Sie nickte.
»Es geht ihm doch besser?«
»Nein, es geht ihm gar nicht gut. Er ist so schwach. Man würde mir natürlich keinen direkten Vorwurf machen. Aber ich… ich kann die Mutter jetzt nicht allein lassen, wegen so eines Ausfluges.«
Er zuckte die Achseln, ein wenig verletzt über die Bezeichnung, die sie gewählt hatte.
»Und sag einmal aufrichtig«, fügte sie wie scherzend hinzu, »liegt dir denn gar so viel dran?«
Er schüttelte den Kopf, schmerzlich beinahe. Aber er fühlte, daß auch diese Geste der Aufrichtigkeit entbehrte. »Ich versteh dich nicht, Anna«, sagte er schwächer, als er gewünscht hätte. »Daß so ein paar Wochen des Fern-voneinander-seins, daß die… Ja ich weiß gar nicht, wie ich’s nennen soll… Es ist ja, als hätte man sich verloren. Ich bin’s doch, Anna, ich bin’s doch…«, wiederholte er heftig aber müd. Er saß auf dem Sessel vor dem Pianino. Er nahm ihre Hände, führte sie an die Lippen, zerstreut und ein wenig erregt.
»Wie war’s denn in Tristan?« fragte sie.
Beflissen berichtete er von der Vorstellung, verschwieg auch seinen Besuch in der Ehrenbergschen Loge nicht, sprach von all den andern Menschen, die er gesehen, und bestellte ihr die Grüße von Heinrich Bermann. Dann zog er sie zu sich auf die Knie und küßte sie. Als er sein Antlitz von dem ihren entfernte, sah er Tränen über ihre Wangen rinnen. Er spielte den Befremdeten. »Was hast du denn, Kind…? Ja warum denn, warum…«
Sie erhob sich, trat zum Fenster, das Gesicht von ihm abgewandt. Nun stand er auf, etwas ungeduldig, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, trat endlich zu ihr, drängte sich nah an sie und begann wieder, unvermittelt, hastig: »Anna! Überleg dir’s, ob du nicht doch mit mir fahren könntest! Es wäre alles so anders, als hier. Man könnte sich aussprechen. Wir haben über so wichtige Dinge zu reden. Ich brauch ja auch deinen Rat; wegen meiner Entschlüsse für das nächste Jahr. Ich hab dir ja geschrieben, nicht wahr? Es ist also sehr wahrscheinlich, daß man mir schon in den nächsten Tagen einen dreijährigen Vertrag zur Unterschrift vorlegen wird.«
»Was soll man da raten?« sagte sie. »Du wirst schließlich am besten wissen, ob du dich dort wohlfühlst, oder nicht.«
Er begann zu erzählen, von dem liebenswürdigen und begabten Intendanten, der ihn offenbar als Mitarbeiter heranzuziehen wünschte, von dem sympathischen, alten Kapellmeister, der einmal so berühmt gewesen war, von irgendeinem sehr klein geratenen Bühnenarbeiter, den man Alexander den Großen nannte, von einer jungen Dame, mit der er die Micaela studiert