Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.mit ihnen der Sieg in seiner schönsten Gestalt standen auf der Schwelle des Hauses, die nahende, schmerzensreiche Nikola zu empfangen und zu sagen: »Sei uns gegrüßt, du bist heut noch tausendmal mehr willkommen als in jenen Tagen, in welchen du mit deinem hellsten Lachen hierhersprangest. Sei gegrüßt, wir beiden Schwestern wollen dein müdes Haupt im Arme halten; solange du nicht über unsern Bann hinaustrittst, hast du nichts zu fürchten von den Mächten, welche dich zu diesem Orte jagten. Sei gegrüßt, wir heißen Geduld und Treue, die Menschen reden viel von uns, und wenige kennen uns; wer aber stark ist, wie die alte Frau, deren Wohnung wir bewachen, dem gibt unser Bruder den Kranz, welchen er der Frau Klaudine gegeben hat.«
Man vernahm in der Katzenmühle den Schall keiner Kirchenuhr; aber es war zwölf Uhr mittags, und in Fliegenhausen setzten die Bäuerinnen eben den dampfenden Suppennapf auf den Tisch, als der Mann vom Mondgebirge mit der Frau Nikola die Mühle erreichte.
Die Frau Klaudine schrie nicht auf und sprang nicht auf; sie streckte nur den Eintretenden beide Hände entgegen und rief:
»Mein Kind, meine liebe, liebe Tochter, nun bist du heimgekehrt, nun hab ich dich ganz und lasse dich nimmermehr von mir. Siehst du, die Verlorenen, die Toten kehren doch zurück! Die mit hundert Ketten in der tiefsten Knechtschaft gebunden lagen, können sich losringen oder können von ihren bösen Herren selbst mit Lachen in die Freiheit hinausgestoßen werden. Nikola, meine Tochter, jetzt hat niemand mehr einen Anspruch auf deine Seele als ich – hörst du? Niemand! Niemand! Keiner in der Nähe und in der Ferne; keiner in der Vergangenheit und in der Zukunft; keiner in der ganzen weiten Welt! Die einen haben nun alle Rechte an dich aufgegeben; die anderen musstest du selber von dir weisen; nur mich allein darfst du jetzt lieben; nur meine Tochter, mein Kind darfst du sein; denn sieh, das ist das schöne süße Innerste des herbsten Schmerzes, dass, wenn es nicht so wäre, du ja auch gar nicht zu mir kommen durftest! Du bist betäubt, aber die Stunde ist nicht fern, wo du selbst an deine Freiheit glauben wirst. Sei still und gedulde dich; es gehen Jahre vorüber wie ein Tag, das ist ein altes Wort; aber nicht immer ist der Mensch fähig, seinen ganzen guten und tröstlichen Inhalt zu fassen.«
Es war im Anfange nur der Klang der Stimme der Frau Klaudine, welchen Nikola von Glimmern vernahm. Den Sinn der Worte begriff sie in ihrer jetzigen Betäubung noch nicht; allein auch die Stunde war nicht fern, in welcher die Mutter von der Heimkehr des Sohnes klarer und bestimmter reden durfte und musste und für das leiseste Beben und Schwingen ihres Herzens einen Widerhall fand.
Das war noch eine schreckliche Stunde für Nikola, als ihr nun das volle Verständnis ihrer Lage zuteil wurde. Die Enthüllung geschah in der Abenddämmerung, als sich die Nebel und die Schatten des Waldes wieder dicht um die Katzenmühle zusammengezogen hatten und die Frau Klaudine, in ihrem Lehnstuhl sitzend, das Haupt der Frau Nikola im Schoße hielt. Der erste Eindruck war überwältigend und die Erschütterung fast größer als bei jener schrecklichen Szene in dem Ballsaal des Herrn von Betzendorff. Langsam, mit Augen starr und gläsern, erhob sich Nikola von Glimmern. Mit einem hellen Schrei riss sie sich aus den schützenden, den treuen Armen der Greisin los und stand aufrecht und lachte wild und rief: »Mutter, es war nicht recht, mir das zu verschweigen! Auch das war ein falsches Spiel! O wie grausam, mich hierherzuführen, um mir zu verkündigen, es sei auch an dieser Stelle kein Raum mehr für mich, es sei überhaupt kein Raum mehr für mich auf Erden und alles sei vorüber und jeder habe sein Teil dahingenommen und ich das meinige.«
Und sie zog ihr Tuch mit hastiger Gebärde um die Schultern zusammen, sie eilte gegen die Tür, als sei ihres Bleibens in der Mühle, am Herde der Frau Klaudine keinen Augenblick länger, als müsse sie auf der Stelle hinausstürzen in die Nacht, in den Wald, in das Grab, gleichviel wohin und zu welchem allerletzten Schicksal.
Noch einmal stöhnte sie laut, halb im wilden Schmerz, halb im wilden Zorn; aber der Zorn galt doch nur ihr allein, und in dieser Trennung und Teilung ihres Gefühls war jetzt einzig ihre Rettung vor dem Wahnsinn und konnte sie von einer abermaligen ziellosen Flucht zurückgehalten werden. Der Schmerz gehörte auch der Frau Klaudine, und deren Macht über die Unglückliche lag in ihm verborgen. Leise, und bittend und weinend rief die Frau Klaudine ihren Namen, da ließ sie die Hand von dem Türgriff sinken und stand einen Augenblick, die Hände gegen die Schläfen drückend, stürzte dann zurück und lag von neuem auf den Knien vor Unserer Lieben Frau von der Geduld, barg von neuem das Gesicht in ihrem Schoß und ließ sie ausreden und ließ sie erzählen, wie er heimkam, was er alles erlebte und wie er nun freudig und als ein besserer Mann gegangen sei und den Platz am Herzen seiner Mutter mit der frohen Überzeugung geräumt habe, dass alles sich zum besten wenden werde.
Die Mutter verschwieg nichts. Sie schilderte den Sohn, wie er war, und zauderte nicht, ihn bis ins kleinste so darzustellen, wie das tolle, wüste Leben ihn herangebildet hatte. Nicht Leonhard Hagebucher, nicht Freund und Feind hätten ein unbefangeneres Urteil über ihn abzugeben vermocht. Sie entkleidete ihn von allem Glanze, der ihm nicht gehörte, sie verschwieg nicht, was ihm stets mangelte und was er dazu verlor; aber sie verschwieg dann auch nicht, was er erwarb auf seinen abenteuerlichen Wegen. Sie zeigte, wie man ihm helfen, wie man ihn fördern könne; sie zeigte, wie grade in dem Aufenthalt der heimatlos Gewordenen im Schutze und am Herzen der Mutter der größte Segen und die teuerste Bürgschaft des Friedens für den so lange heimatlos gewesenen Sohn liege. Zuletzt sprach sie von dem Leutnant Kind, und dichter drängte Nikola sich an sie, als dieser Name genannt wurde.
Nikola von Glimmern kannte jetzt die Geschichte des Leutnants Kind ebenfalls. Auf dem schweren, tränenreichen Wege zu der Katzenmühle hatte Hagebucher sie vorsichtig und ganz allmählich damit bekannt gemacht, jedoch den Platz des Herrn van der Mook leer darin gelassen; nun öffneten sich vor ihren Augen auf allen Seiten die Abgründe, zwischen denen sie gewandelt war; nun blickte sie mit einemmal schaudernd in das Gewimmel gespenstischer Arme und fleischloser Hände, die sich von jeder Seite aus der Tiefe emporgereckt und nach ihr gegriffen hatten. Eine Gespensterfurcht kam über sie, von der sie in ihrem spätern Leben nie wieder ganz frei wurde; und nie mehr konnte sie von der Stunde an ein Zimmer verlassen und eine Tür hinter sich zuziehen, ohne bis in alle Tiefen ihres Wesens ein Gefühl zu haben, dass sich in dem leeren, eben verlassenen Raume ein unheimliches Etwas aufrichte und mit einem öden, totenhaften, blöden Grinsen ihr nachstarre und zische: »Glaubst du, du seiest je allein und bei dir? Wir sind da! Wir sind da, sehen auf dich, hören auf dich, achten auf dich und lachen deiner! Dir hilft kein Trotz, dich rettet nicht die Scham, wir sehen, wir hören, wir haben unsere Lust an dir, sind deine Feinde und wissen, dass wir dich mit unsern Blicken töten werden!« – Die Genien auf der Schwelle und am Herde der Frau Klaudine hatten einen harten Stand