Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.Es war keine Krankheit, von der Nikola ergriffen wurde, es war nur diese unendliche Müdigkeit und Schlummersucht, während welcher ein jegliches dem Menschen gleichgültig wird, nur nicht das Knarren der Tür, das Zurückschieben eines Stuhles oder Tisches, der Lärm der Gasse und die Besuche selbst der besten Freunde. Vor alle diesem aber war die Müde in dem winterlichen Walde, in der verzauberten Mühle ganz sicher. Der Ruf der Krähen und der wilden Gänse, wie sie ihren Flug über die Baumgipfel nahmen, störte nicht, sondern klang sogar wie eine tröstende Stimme aus dem großen wahrhaftigen Reiche der Natur herüber, und das nämliche tat der Wind im Leisen und im Lauten.
Auch Leonhard Hagebucher, der einzige, welchem aus dem weiten vielgestaltigen Kreise, der einst seine Wirbel um die Frau Nikola zog, jetzt die Tür der Katzenmühle offenblieb, störte nicht. Er kam auf den Fußspitzen, ging auf den Fußspitzen und sagte wenig. Stundenlang saß er oft mit einem Buche in der Hand, ohne zu lesen, in einem Winkel oder am Fenster der Mühle und sah in den Wald hinaus. Und wenn man ihn gefragt hätte, an was er denke, an die Tante Schnödler oder den klugen Schneider Felix Täubrich, an die Madam Kulla Gulla zu Abu Telfan im Tumurkielande oder an Herrn Ferdinand Zwickmüller zu Montreux am Genfer See, so würde er gewiss häufig die Antwort auf solche Fragen schuldig geblieben sein. Aber doch gab es etwas, an welches er zu jeder Stunde denken musste und auf welches er auch allstündlich mit dumpfer Unruhe wartete. Das war eine Nachricht von dem Herrn Kornelius van der Mook, welche dieser ihm weder mündlich noch schriftlich versprochen hatte und welche doch einmal von ihm anlangen musste: heute oder morgen, beim Frühstück oder beim Zubettegehen, am hellen, lichten Mittage oder um Mitternacht, in der Stunde, in welcher die Geister Erlaubnis haben, auf Erden zu erscheinen, welche letztere Zeit vielleicht die passendste genannt werden konnte. –
Fünfunddreißigstes Kapitel
Ist das nicht ein wunderliches Ding im deutschen Land, dass überall die Katzenmühle liegen kann und liegt und Nippenburg rundumher sein Wesen hat und nie die eine ohne das andere gedacht werden kann? Ist das nicht ein wunderlich Ding, dass der Mann aus dem Tumurkielande, der Mann vom Mondgebirge nie ohne den Onkel und die Tante Schnödler in die Erscheinung tritt? Wohin wir blicken, zieht stets und überall der germanische Genius ein Drittel seiner Kraft aus dem Philistertum und wird von dem alten Riesen, dem Gedanken, mit welchem er ringt, in den Lüften schwebend erdrückt, wenn es ihm nicht gelingt, zur rechten Zeit wieder den Boden, aus dem er erwuchs, zu berühren. Da wandeln die Sonntagskinder anderer Völker, wie sie heißen mögen: Shakespeare, Milton, Byron; Dante, Ariost, Tasso; Rabelais, Corneille, Molière; sie säen nicht, sie spinnen nicht und sind doch herrlicher gekleidet als Salomo in aller seiner Pracht: in dem Lande aber zwischen den Vogesen und der Weichsel herrscht ein ewiger Werkeltag, dampft es immerfort wie frisch gepflügter Acker und trägt jeder Blitz, der aus den fruchtbaren Schwaden aufwärts schlägt, einen Erdgeruch an sich, welchen die Götter uns endlich, endlich gesegnen mögen. Sie säen und sie spinnen alle, die hohen Männer, welche uns durch die Zeiten voraufschreiten, sie kommen alle aus Nippenburg, wie sie Namen haben: Luther, Goethe, Jean Paul, und sie schämen sich ihres Herkommens auch keineswegs, zeigen gern ein behagliches Verständnis für die Werkstatt, die Schreibstube und die Ratsstube; und selbst Friedrich von Schiller, der doch von allen unsern geistigen Heroen vielleicht am schroffsten mit Nippenburg und Bumsdorf brach, fühlt doch von Zeit zu Zeit das herzliche Bedürfnis, sich von einem früheren Kanzlei- und Stammverwandten grüßen und mit einem biedern »Weischt« an alte natürlich-vertrauliche Verhältnisse erinnern zu lassen.
Es lebe Nippenburg und Bumsdorf, der Bierkrug und die Kaffeekanne, der Strickstrumpf und das Dintenfass, es lebe der Boden, auf welchem wir stehen und in welchem wir begraben werden, es lebe der Herr von Bumsdorf, es lebe der Onkel und die Tante Schnödler, es lebe der Onkel und Stadtrat Hagebucher, es lebe die Cousine Klementine, und vor allen Dingen lebe der Vetter Wassertreter!
Der muntere Leutnant Herr Hugo von Bumsdorf hatte keinen Grund gehabt, nach seinem nächtlichen Ritt zur Katzenmühle unter den behaglichen Laren und Penaten seines Vaterhauses aus seinem überquellenden Herzen eine Mördergrube zu machen. Dagegen hatte er sein plötzliches Erscheinen unbedingt zu rechtfertigen und tat’s auf die vollgültigste Art und Weise. Er holte weit aus und brach wie gewöhnlich häufig aus der Bahn; aber dafür übersprang er auch nichts von Bedeutung oder was sonst den »verruchten Provinzialsumpf zum Wellenschlagen bringen konnte«.
Und die Provinz schlug Wellen! So etwas war seit der Rückkehr Leonhard Hagebuchers aus der afrikanischen Gefangenschaft nicht erlebt worden und ließ sich jenem Ereignis ebenbürtig an die Seite setzen, wenn es dasselbe nicht sogar noch weit übertraf an allgemeiner und tiefgehender Bedeutung. In immer weiterer Schwingung setzte sich auch diesmal wieder die Bewegung vom Bumsdorfer Gutshofe über das Hagebuchersche Haus fort, erreichte Nippenburg auf den Flügeln des Windes und fand überall einen Widerhall, den sonst nur der Ruf der Feuerglocke zu finden das Vergnügen hat. Der Vetter Wassertreter hatte nachher das Recht, sich ganz passend und klassisch mit dem alten Römer Horatius Cocles, welcher allein die sublizische Brücke gegen die ganze Armee des Königs Porsenna verteidigte, zu vergleichen. Wie jener wackere Held verteidigte auch er solus die Chaussee nach Fliegenhausen gegen die vordringenden Nippenburger Neugierigen. Die Cousine Klementine Mauser hätte sich, freilich in einer anderen Weise, mit der berühmten Jungfer Cloelia vergleichen dürfen. Sie schwamm zwar nicht durch den Tiber, aber sie umging in Begleitung von zehn anderen ältern Jungfrauen den Vetter Wassertreter und gelangte wirklich bis zum Roten Ochsen in Fliegenhausen, wo sie jedoch leider von Leonhard Hagebucher abgefangen und mit der Notiz, die Frau Baronin von Glimmern sei augenblicklich noch nicht imstande, Besuche zu empfangen – zurückgeschickt wurde.
Der Vetter Wassertreter war auch in dieser Zeit wieder der einzige Trost und Stützpunkt, welchen Leonhard außerhalb der Katzenmühle fand, wie er auch der einzige war, mit welchem der Afrikaner über die Vorgänge der letzten Zeit und ihre Bedeutung wirklich reden konnte, ohne durch einen Schwall von Interjektionen betäubt und durch einen nicht geringern Schwall von Fragen platt daniedergelegt zu werden.
Der Vetter Wassertreter als ein Mann, welcher noch den alten Goethe von hinten erblickt hatte, sagte einfach:
»Mein Sohn, du hast deine Sache recht gut gemacht; übrigens ist es meine Meinung, dass du anjetzo hier ebenso festsitzest wie ich, nachdem sie mich damals mit dem bekannten offiziellen