Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.allmählich in immer schärfern Umrissen hervortrat. Einige anlockende neue Briefe Leonhards steigerten die Sehnsucht nach dem Manne vom Mondgebirge. Zu Anfang Juni war aus dem Wunsch, ihn zu besuchen, ein Entschluss geworden, und zu Anfang der Hundstage waren sämtliche Vorbereitungen zu der abenteuerlichen, aufregenden Expedition getroffen; es stand dem Aufbruche nichts mehr im Wege, und eines schönen morgens brach man wirklich auf.
Seit zwanzig Jahren war der Professor nicht über die nächste Umgebung der Hauptstadt, die bekannte Promenade und den bronzenen Großherzog hinausgekommen und wusste durchaus nicht, was er tat, als er sich in antiker Waghalsigkeit für eine »Fußreise« entschied. Man hat auch wohl in der Hand einer Mumie Weizenkörner gefunden, welche man nach dreitausendjähriger Ruhe in die Erde pflanzte und genügend begoss und welche lustig zu keimen anfingen, grüne Halme trieben und zuletzt recht anständige Ähren trugen: ein ähnliches Erwecktwerden und Erwachen erfuhren jetzt die Gefühle und Stimmungen dieses alten Kopten.
Seine Frau hatte er begraben, seine Tochter war er ebenfalls los; er holte den Ziegenhainer aus dem Winkel, in dem derselbe mehr als vierzig Jahre hindurch unbeachtet stand; er fand sein altes Kommersbuch wieder und summte: »Frei ist der Bursch, frei ist der Bursch!« Er legte den Ziegenhainer auf den Tisch und das Kommersbuch daneben und betrachtete beide mit untergeschlagenen Armen, wie der edle Junker von La Mancha am Abend vor seinem ersten Ausritt Schwert und Tartsche betrachtet haben mochte. Der Pascha packte dasselbe Felleisen, das er bereits durch die syrische Wüste trug, und füllte eine Korbflasche, die auch schon allerlei Fährlichkeiten durchgemacht hatte, mit einem belebenden Stoff. In einer heiligen grauen Frühe schlichen die beiden Helden auf den Zehen aus dem Hause, überließen es mit sämtlichem gelehrten und ungelehrten Spuk und Unrat der Magd, zogen sich wie zwei entwischende Verbrecher oder Schulbuben die Mauern entlang zum nächsten Tore, traten hinaus in die Freiheit und frische Luft und wandelten weiter – wir wissen wohin.
Wir wissen auch, dass es eben kein weiter Weg nach Nippenburg ist, dass überhaupt die Wege des Staates nicht lang sein können, sowohl aus geografischen wie aus politischen Gründen; allein beide Wanderer erlebten Wunderdinge an und auf ihnen. Eine Schnecke, welche ein Geschäft in dem obersten Wipfel einer Pappel zu verrichten hat, trifft auf ihrem Pfade kaum auf mehr Hindernisse, Schwierigkeiten und Gründe, um auszuruhen, als der koptische Gelehrte auf dem seinigen. Wir können es nur bedauern, dass wir uns nicht mehr im Anfange oder in der Mitte unseres Buches befinden, um dieser Wanderung vollkommen gerecht zu werden. Sie übernachteten zweimal unterwegs, und am dritten Morgen fanden wir sie in der beschriebenen Stimmung, dem Kirchturm von Nippenburg zutrabend, und eilen ihnen jetzt voraus, um von den Fenstern des Vetters Wassertreter aus ihrem Einzuge in das berühmte Weichbild beizuwohnen.
Und es war noch gradeso in Nippenburg wie beim Beginn unserer verwunderungswürdigen Historie; das Wappen der Stadt war noch immer ein grau-weiß gesprenkelter Strickstrumpf im blauen Felde, und der Onkel und die Tante Schnödler waren noch immer Schildhalter und machten ihre Sache gradeso gut wie die beiden bekannten Wilden Männer oder Löwe und Einhorn oder die beiden goldenen Greifen des Hauses Habsburg. Der Vetter Wassertreter aber war noch immer ein Greuel und eine Unreinigkeit für die Stadt. Und der Vetter Wassertreter lag wie gewöhnlich im Fenster, blies aus sehr langer Pfeife leichte Wölkchen in die elfte Stunde des Morgens hinaus, teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem mangelhaften Straßenpflaster, welches, beiläufig gesagt, ihn durchaus nichts anging, und der Cousine Klementine Mauser, die gegenüber ihrem Kanarienvogel die Cour machte, und wartete mit Sehnsucht, »um doch etwas zu haben«, auf die aus der Schule heimkehrende löbliche Nippenburger Straßenjugend. Nur der, welcher je einen von Würmern geplagten Lachs aus der Tiefe des Stromes aufschnellen sah, hat ein richtiges Bild von der Bewegung, dem Auffahren des Vetters, als fünf Minuten nach elf Uhr inmitten der dem Rektor Hauenstein entronnenen Jugend der Professor Reihenschlager und des Professors Begleiter am Horizont, das heißt an der nächsten Straßenecke aufgingen.
»O Himmel!« hauchte die Base Klementine.
»Alle Donnerwetter!« schrie der Vetter Wassertreter, verlor im nächsten Augenblick seinen Pantoffel auf der Treppe, verlor Wasserschlauch und Pfeifenkopf in der Haustür, fuhr wie ein neuer Erlenkönig mit Kron und Schweif, nämlich in der Nachtmütze und im langen zerlumpten Schlafrock hinaus in die Gasse und dem alten Korpsbruder mit fast erwürgendem Enthusiasmus an den Hals.
»Pilz! Pilz? Ist es denn möglich, Pilz?«
»O Schaumlöffel, ich glaube es; aber ich weiß es nicht!«
»Was sind das nun wieder für zwei Mörder?« ächzte die Cousine Klementine; aber der Vetter hielt sich nicht damit auf, ihr dieselben von der Straße aus vorzustellen, sondern zog den Professor an der rechten, den Pascha an der linken Hand hinter sich her, fort aus dem Kreise verwunderter Nippenburger, der sich bereits um die Ankömmlinge gesammelt hatte, in das Haus, die Treppe hinauf, setzte den einen in den Lehnstuhl, setzte den anderen auf das Kanapee, jagte das ganze Hauswesen nach Erfrischungen auf und aus und drehte sich gleich einem Kreisel zwischen den beiden Gästen und wiederholte fortwährend:
»Ich glaube es auch noch nicht! Ich glaube es auch noch nicht!« Und dann schickte er in den Goldenen Pfau und bestellte das Mittagsmahl so glorreich, als der Vogel »es auf so kurzes Aviso zu prästieren vermöge«, und zwar bei seinem Fluche.
Der Professor fand Nippenburg und den Schaumlöffel ganz seinen Voraussetzungen entsprechend. Er zeugte sich um halb zwölf Uhr einen kleinen Rausch, und er zeugte sich um drei Uhr einen zweiten und etwas größern. Von vier bis sechs Uhr tat er einen seligen Schlaf auf dem Sofa des Vetters, während der Vetter den Pascha nach tausend Einzelheiten der Reise ausfragte und sich immer vergnügter die Hände rieb.
»Es ist der glorioseste Bursche, der jemals seinen Kopf aufs Koptische setzte, und wenn er aufwacht, marschieren wir nach Bumsdorf!« rief der Vetter. »Hurra, das ist wundervoller als selbst der alte Goethe von hinten. Und seinen römischen Meilenstein soll er auch haben; ich halte ihn zwar für einen von meinen eigenen, aber das ist mir ganz einerlei, und ich will ihm im Notfall auf zwanzig mehr von der Sorte schwören. Hurra! Jena soll leben!
Nimm den Schläger in die Linke,
Bohr ihn durch den Hut und trinke
Auf des Vaterlandes Wohl!«
Noch halb im Schlafe antwortete der Professor vom Sofa her: