Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.so elegisch und weich, wie es sich gebührt! Die grauen Wellen klatschen um den Bauch meines Schiffes, und meine Gedanken begleiten dieses Schreiben über die ärgerliche See nach der deutschen Küste. Ich male mir auf die verschiedenste Weise aus, in welcher Stunde es Ihnen ins Haus getragen wird und was Sie nach Empfang desselben beginnen werden. Ich habe ein wenig das Fieber oder sonst dergleichen. Bei Allah, ein Opiumrausch, ein Berberroß, ein Moskowiterkarree und die Aussicht auf den siebenten Himmel des Propheten, das sind die vier Dinge, aus denen seit Erschaffung der Welt die einzigen vernünftigen und vergnügten Momente der Menschheit zusammengedreht wurden! Bei Allah, ich wollte, ich läge auf irgendeinem alten oder neuen türkischen Schlachtfeld begraben und hätte Ruhe!
Was werden sie sagen in der Mühle, was werden sie tun? O Hagebucher, ich hätte noch immer die grimmigste Lust, dieses wahnsinnige Blatt zu zerreißen und selber zu kommen und selber in das Fenster zu sehen und selber an der Tür zu horchen! Fort damit! Ich glaube, ich käme, wenn ich selber die Hand in dem blutigen Spiel in Lower Thames Street gehabt hätte und sagen könnte: Das tat ich!
Ich peitsche diese Vorstellung im Kreise umher wie ein Bube seinen Kreisel! Mein armes Mädchen, was wird sie sagen, wenn Sie in die Tür treten und sprechen: Er ist tot! – ?
Zum Henker, ich weiß meiner Seele selbst keinen Rat, und Sie, Hagebucher, Sie, der Fremde, sollten es dort in dem verschlafenen Walde aussprechen, klar aussprechen können, was mir das Herz und den Gaumen austrocknet und mir das Gehirn zu Schaum quirlt? – Es wird wohl so sein; – leben Sie wohl und grüßen Sie meine Mutter.
Viktor Fehleysen
PS. Ich bin zu einem Weibe geworden und habe dadurch das Recht erworben, eine Nachschrift anzuhängen. Um vier Uhr am Nachmittag geht die Borussia, die nicht meinetwegen gestern Southampton anlief, nach New York. Ich befinde mich auf dem Wege zum General Grant; man sagt, der Herr besitze allerlei gute Mittel gegen Schwäche der Nerven, Blutandrang nach dem Kopfe und dergleichen und gebe dieselben wohlfeil ab.
Korporal Kornelius van der Mook«
Einen Tag und eine Nacht wog Leonhard Hagebucher den Inhalt dieses Briefes. Tief sank die eine Schale seiner Waage herab, während die andere hoch emporschnellte. Er trug schwer, schwer an dem leichtern Teile, welchen er am folgenden Morgen den Frauen in der Katzenmühle brachte.
Sechsunddreißigstes Kapitel
»Dieses ist fürchterlich und keiner meiner Voraussetzungen entsprechend!« ächzte der Professor und Doktor der Weltweisheit Reihenschlager, die triefende Stirn mit dem Sacktuch betupfend und unter der emporgeschobenen Brille weg die Landstraße entlangschauend. »Der Weg scheint umso länger zu werden, je länger wir ihn beschreiten, der Staub ist mir im höchsten Grade zuwider, die Sonne ist trotz dieses Regenschirmes unerträglich, und von dem Zustand meiner Füße will ich gar nicht reden. Täubrich, wäre es nicht mein Grundsatz, jedes Unternehmen, dem ich mich einmal gewachsen fühlte, bis ins Äußerste durchzusetzen, so würde ich mich unserm Vorsatz, Nippenburg ganz und gar zu Fuß zu erreichen, im gegenwärtigen Augenblick nicht mehr gewachsen erklären und auf sämtliche Lehren der stoischen Schule pfeifen. Verstehen Sie mich?«
»Ich glaube es, doch weiß ich es nicht recht«, sprach Täubrich-Pascha, mit dem gewohnten melancholischen Kopfschütteln den gelehrten Mann anstarrend.
»Sie glauben mich zu verstehen, aber wissen es nicht – gut! Das Begehren ist entweder sinnlich oder vernünftig. Daraus entstehen nach Beschaffenheit der Gegenstände vier Leidenschaften oder Gemütsbewegungen und drei vernünftige Willensbestimmungen, über welche Sie das Nähere beim Cicero in den Tuskulanischen Unterhaltungen selber nachlesen mögen. Der Weise bestimmt sein Begehrungsvermögen nur durch die letztern drei, und darin bestand die stoische Apathie, und darum werden wir unter allen Umständen Nippenburg zu Fuße erreichen. Verstehen Sie nun?«
»Vollkommen!« rief der Schneider und Famulus mit einem muntern Bockssprung und fügte hinzu, was die Strapazen und die Sommerwärme anbetreffe, so sei das noch gar nichts; in Palästina könne man ganz andere Dinge erleben, ein Ende finde jeder Weg und auch Nippenburg lasse sich wohl noch vor Mittag erreichen, wenn man nicht vor jedem Steine anhalte oder über ihn stolpere. Der Professor fasste mit einem tiefen Seufzer von neuem alle körperliche und geistige Kraft zusammen und trabte keuchend dem leichten Schneider nach auf der staubigen Chaussee des Vetters Wassertreter, durch den schwülen Hochsommermorgen den Bergen von Nippenburg, Bumsdorf und Fliegenhausen entgegen. Wie aber das drollige Paar auf die Landstraße geriet, darüber ist jedenfalls einiges zu sagen, ehe wir das Vergnügen haben werden, seinem Einzug in die Heimat Leonhard Hagebuchers anzuwohnen.
Der Professor hatte viel erlebt im letzten Winter und Frühling. Sein Hausfreund Leonhard war in schnödester Weise zum zweiten Male ihm und der koptischen Grammatik durchgegangen, und seine Tochter hatte selbstverständlich sich an nichts gekehrt, hatte um Pfingsten ihren Ferdinand zum Altar geführt und besorgte mit großer Energie die Küche und Wäsche in ihrem internationalen Erziehungsinstitut am Lacus Lemanus. Die ganze Welt stand auf dem Kopf, der Professor wusste sehr häufig nicht, wo ihm der seinige stand, und um ihm denselben zurechtzusetzen, war ihm niemand geblieben als der Pascha, ein Mann und Berater, auf welchen man sich freilich in allen Dingen verlassen konnte.
Wohl hatten ihm das Töchterchen und der Schwiegersohn den Vorschlag gemacht, mit ihnen in die Fremde zu ziehen und durch seinen Beistand das internationale Institut auf die höchste Stufe pädagogischer Vollkommenheit zu heben: allein da war er wirklich grob geworden und hatte sämtliche Götter von Latium und Hellas zu Zeugen aufgerufen, dass er tausendmal lieber bei lebendigem Leibe den Rogus besteigen als sich zu solcher Versündigung an der treuen deutschen gelehrten Gründlichkeit und den hohen Ahnen wahrhaftiger germanischer Philologie herbeilassen werde, gab also der Tochter so viel des väterlichen Segens, als er davon zu geben hatte, ließ sie ziehen, ohne sie weiter als bis zur Haustür zu begleiten, verriegelte sich in seinem Studierzimmer und versank vollständig aus der Welt der Lebendigen. Schimmel bildete sich in seinem Dintenfass, Wurmmehl sammelte sich unter seinem Stuhle, Staub auf seinen Papieren und immer tieferer Missmut auf seiner Stirn. Die Arbeit an dem hochgelehrten wichtigen Werke, die zu keiner Zeit mit Dampfeskraft vorschritt, stockte allmählich ganz; das Haus war still wie das Innere einer Pyramide, der Alte repräsentierte