Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman. Christine von Bergen

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Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman - Christine von Bergen


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Vorstadt von Zürich. An diesem ersten Abend konnte sie von der beschaulichen Stille um sich herum und der guten Luft nicht genug bekommen. Während sie beobachtete, wie die Dämmerung aus dem Tal hinauf über die Tannenhöhen schlich, tauchte die untergehende Sonne die Bergzüge im Osten in ein dunkles Purpur. Hinter den Hügeln, am weiten Horizont, segelten einzelne lang gezogene Wolkenstreifen mit lichtem Gold gesäumt. Keine Hochhäuser, keine Telegrafenmasten, kein Flugzeuglärm, der die Ruhe der Natur gestört hätte.

      Fasziniert sah die junge Frau zu, wie die Farben um sie herum verblassten. Der Mond wanderte höher. Das vielstimmige Geläut der Kuhschellen verklang, und die Steinache, die in ein paar Meter Entfernung durch die Wiesen plätscherte, schien leiser zu fließen als noch am Nachmittag.

      Nicole lächelte versonnen vor sich hin.

      Wie gut tat diese Ruhe, diese Idylle, ihrem ausgebrannten Körper! Für ein paar Augenblicke spürte sie keinerlei Schmerzen mehr, vergaß alle Zukunftssorgen und versank ganz im Hier und Jetzt. Sie schloss die Augen, atmete den Duft von Harz und fruchtbarer Erde tief ein, spürte den lauen Abendwind auf ihrer Haut und glaubte sogar zu spüren, dass er etwas mit sich brachte, was ihr Leben fortan für immer verändern würde.

      *

      Nicole begann den nächsten Tag mit zwei Tassen starkem Kaffee und einem Vitamindrink. Wie fast ihr gesamtes Leben lang. Heiko Wieland, ihr Agent, versorgte sie mit den flüssigen Nährstoffen, wie auch seine anderen ›Schäfchen‹. So nannte er all die Tänzerinnen, denen er Auftritte vermittelte. Nach dem Frühstück beschloss sie, eine Wanderung zu machen, trotz der Schmerzen im Fuß.

      In einer Jeans, die ihr inzwischen auch schon zu weit war, Turnschuhen und mit einem leichten Rucksack auf dem Rücken ging sie los. Da sie sich im Ruhweiler Tal nicht auskannte, schlug sie einfach eine beliebige Richtung ein.

      Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich.

      Seit mehr als zwanzig Jahren waren ihre Tage bestimmt vom Balletttraining, von der Planung anderer Menschen; sie hatten stets den gleichen Rhythmus. Dass sie jetzt auf sich allein gestellt war, rief ein Gefühl der Unsicherheit in ihr hervor.

      Sie atmete energisch durch.

      Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh –, Nicole erinnerte sich wieder daran, dass ihre Großmutter ihr diese Pflanzen einst gezeigt hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an ihre Kindheit still vor sich hin, an die Zeit, bevor sie Ballettunterricht genommen hatte. Doch gleich darauf schüttelte sie diese Gedanken schnell ab.

      Von hier oben hatte man einen traumhaften Blick auf die Häuser von Ruhweiler, auf die kleine weiße Kirche, deren goldener Wetterhahn in der Sonne blinkte.

      Sie ging weiter in den Hochwald hinein. Über ihr lispelten die Blätter im Sommerwind. Im Geäst der Tannen, Fichten und Buchen sangen die Vögel um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machen wollte.

      Nach einer Biegung entdeckte die junge Frau einen Holztransporter, der quer zum Wanderweg stand. Männer waren damit beschäftigt, Bäume zu fällen und Stämme aufzuladen. Als sie näher kam, löste sich einer aus der Gruppe und kam auf sie zu. Ein Mann mit dunkelbraunen Locken, von denen ihm einige verwegen in die braun gebrannte Stirn fielen. Breitbeinig blieb er vor ihr stehen, mit einem jungenhaften Lächeln in dem gut geschnittenen Gesicht. Er kam ihr vor wie ein Teil dieser wilden rauen Waldwelt.

      »Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich zu ihr.

      »Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte in erstauntem Ton.

      »Hier kannst du nicht weitergehen«, erklärte er mit einem Lächeln, das sie sofort in seinen Bann zog. »Das wird noch ein paar Stunden dauern. Wir holzen gerade.«

      Sie hob die Schultern. »Dann kehre ich halt wieder um.«

      »Wohin willst du denn?«

      »Ganz gleich wohin.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich kenne die Gegend noch nicht.«

      »Du solltest zur Hexenhütte wandern. Dort gibt es einen wunderschönen Ausblick und die besten Käsespätzle.«

      Wie unter einem Blitz zuckte sie innerlich zusammen.

      Kritisierte er mit diesem Vorschlag etwa ihre Figur?

      »Dafür musst du ein Stück zurück und dann dem Schild nach«, erklärte er ihr und fügte mit strahlendem Lächeln hinzu: »Der Weg lohnt sich wirklich.«

      »Danke für den Tipp.« Sie hörte selbst, wie viel kühler sie nun klang. Sie wollte schon umkehren, aber der Blick aus den sanftbraunen Männeraugen hielt ihren fest. Es war ein ernster Blick, ein forschender. Er schien bis in ihre Seele vordringen zu wollen.

      »Machst Urlaub hier bei uns im Tal?«, fragte der junge Mann in dem grünen Overall, über dem er trotz der Wärme eine orangefarbene Warnweste trug.

      »Ja«, antwortete sie.

      Sie fühlte sich befangen, ja, sogar ein wenig verunsichert, was sie gar nicht von sich kannte. Hatte sie den Umgang mit Männern etwa völlig verlernt?

      »Und? Gefällt’s dir bei uns?«

      »Sehr.« Diese Antwort kam ihr aus dem Herzen und klang auch so.

      Er nickte, lächelte, nicht mehr ganz so strahlend und verabschiedete sich dann mit den Worten: »Also dann … Ade. Ich wünsch dir was.«

      »Ich dir auch.« Sie hob die Rechte, drehte sich um.

      Ihr Herz schlug plötzlich schneller. In ihr breitete sich das Gefühl von Bedauern aus, das sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Gern hätte sie sich noch etwas länger mit dem Waldarbeiter unterhalten. Er stammte aus einer anderen Welt als der, in der sie heute lebte. Aus der Welt, in die sie einst hineingeboren worden war. Ihr Großvater war Förster gewesen.

      Während Nicole so in Gedanken weiterging, betrachtete sie ein paar Vögel, die über ihr ihre Bahn zogen, elegant und schwerelos.

      Sich einmal so richtig frei fühlen … Ja, das wünschte sie sich.

      *

      Daniel Geißle schaute der Urlauberin nach.

      Eine Elfe, voller Anmut, aber viel zu dünn. Wunderschöne graue Augen hatte sie, denen der Kranz langer, schwarzer Wimpern noch mehr Tiefe gab. Erholungsbedürftig schaute sie aus. Blass. Er hatte auf ihren Zügen die Anzeichen von Erschöpfung gelesen, die er schon so oft auf Gesichtern gesehen hatte. Auch auf seinem eigenen.

      Daniel strich sich die Locken aus der Stirn und schüttelte den Kopf, aus Unverständnis darüber, was diese Fremde in ihm angerichtet hatte. Immer noch stand er mitten auf dem Weg, hörte das Kreischen der Kettensägen in seinem Rücken und die Rufe der Männer ein paar hämmernde Herzschläge lang wie Geräusche von einem anderen Planeten, die ihn nichts angingen. So etwas war ihm noch nie passiert. Noch nie zuvor hatte eine Frau einen solch intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie hatte eine Aura gehabt, die ihn, ohne dass er sich hätte wehren können, in ihren Bann gezogen hatte. Und nicht nur das. Er spürte dem Gefühl nach, das ihn ein paar Atemzüge lang beherrschte, das Gefühl, mit dieser Frau seelenverwandt zu sein. Ja, er glaubte, sie zu kennen, zu wissen, dass sie litt. In dem Leiden, das er bei ihr vermutete, kannte er sich aus. Er war diesem Zustand vor einem halben Jahr erst entkommen.

      Noch einmal schüttelte er den Kopf, dieses Mal energischer.

      Blödsinn. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein, weil ihn nachts oft noch die Träume an die vergangenen Jahre plagten.

      Die Fremde war längst verschwunden, als Daniel zu den Holzfällern zurückging.

      *

      Nach der Wanderung, die kürzer ausgefallen war als Nicole sich vorgenommen hatte, fuhr die junge Frau nach Ruhweiler hinunter, um Obst und Tee einzukaufen. Ihre Füße brannten wieder, als würde ein Feuer in ihnen wüten. Der rechte Fuß und seine Zehen noch mehr als


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