Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman. Christine von Bergen
Читать онлайн книгу.das sich in ihrem Innern ausbreitete. Das Gefühl, eine Chance auf schöne Stunden vertan zu haben. Denn eines wusste sie jetzt schon: Morgen würde sie sich eine andere Schwimmmöglichkeit suchen. Sie hatte ihm einen Korb gegeben. Ihr war peinlich, ihm noch einmal zu begegnen. Vielleicht würde er ja jetzt sogar sauer auf sie sein, und ein Wiedersehen würde unangenehm ausfallen.
Schade.
*
Das Gefühl des Bedauerns begleitete Nicole auch noch auf dem Rückweg zu ihrem gemieteten Häuschen. Nach einem Frühstück, das aus Kaffee und ihrem Vitamindrink bestand, überlegte sie, wie sie den Tag, der vor ihr lag, gestalten sollte. Ihre Füße brauchten Ruhe, wie Dr. Brunner gesagt hatte. Also würde sie sie hochlegen und ein Buch zur Hand nehmen.
Sie hatte gerade erst ein paar Seiten gelesen, als ihr Handy klingelte. Dieses Mal öffnete sie die Leitung zu ihrer Mutter.
»Kind, wo bist du denn? Ich habe schon mehrmals versucht, dich zu erreichen«, überfiel ihre Mutter sie in der für sie so typischen übereifrigen Art.
Tja, wo war sie? Auf gar keinen Fall wollte sie ihr verraten, dass sie in einem kleinen Ort namens Ruhweiler im Schwarzwald war.
»Bist du nicht in Zürich? Arbeitest du nicht?«
Nun gut, was blieb ihr anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen?
»Ich pausiere drei Wochen.«
Stille.
Ihre Mutter schwieg, was ihr zeigte, wie betroffen sie sein musste.
»Du pausierst?«
Kurz und knapp erzählte sie, was passiert war.
»Drei Wochen lang?«
Dass diese Zeitspanne viel zu kurz war, wusste sie seit gestern von Dr. Brunner.
»Aber du stehst doch nach drei Wochen wieder auf der Bühne, oder?«
»Natürlich.«
Sie konnte durch die Leitung hören, dass ihre Mutter ausatmete.
»Ich mache hier viel Sport«, erzählte sie weiter. »Der Notarzt, ein Sportmediziner, hat mir Ausdauertraining empfohlen.«
»Hier? Was heißt denn hier? Wo ist das?«
Sie seufzte. »Im Schwarzwald.«
»Und wo da?«
»Ach, Mama, ein kleiner Ort. Ein Bekannter von mir kennt ihn. Jetzt sag mal, wie geht es denn dir eigentlich?«
Ihre Mutter antwortete nicht. Stattdessen hörte sie Stimmen im Hintergrund. Dann meldete sie sich wieder. »Kind, ich muss auflegen. Gerade ist der Heizungsinstallateur gekommen. Ich gehe übrigens auf Kreuzfahrt. Und wir müssen unbedingt noch einmal über deinen Zusammenbruch reden. Tschü-üs.«
Nicole atmete erleichtert aus.
Herzlichen Dank an den Installateur, dachte sie lächelnd und wollte sich wieder in ihr Buch vertiefen. Doch das sollte ihr nicht mehr so recht gelingen. Die Stimme ihrer Mutter klang immer noch in ihr nach.
Gerda-Franziska Konzack, ihre Mutter … Geschieden, alleinerziehend, beruflich gescheitert. Zumindest in ihren eigenen Augen. Nicole seufzte leise. Ihre Mutter hatte alles für sie getan. Mehr als das. Ihren ganzen Verdienst als Kassiererin in einem Discounter in Leipzig hatte sie in ihre Ballettausbildung gesteckt, hatte ihren Weg vom kleinen Mädchen, das mit fünf Jahren zum ersten Mal die Spitzenschuhe angezogen hatte, bis zur Primaballerina begleitet und mitgetragen. Ja, sie musste ihrer Mutter dankbar sein. Und trotzdem steckte da ganz tief in ihr auch ein ganz anderes Gefühl als Dankbarkeit. Nein, dieses Gefühl wollte sie gar nicht erst näher betrachten.
Sie richtete sich auf der Liege auf.
Das Herumhängen brachte sie nur auf Gedanken, die ihrer Seele schadeten. Sie war nicht gewöhnt, in den Tag hineinzuleben. Sie musste etwas tun. Ob es ihrer Heilung schaden würde, wenn sie in dieses Sportgeschäft fuhr, das Thorsten ihr empfohlen hatte? Sie brauchte einen neuen Badeanzug. Und vielleicht würden ja auch ein paar richtige Wanderschuhe mit geformtem Fußbett Wunder tun.
*
Nicole fuhr langsam die beschauliche Geschäftsstraße von Ruhweiler entlang. Zu ihrer Rechten lag der Schwarzwaldladen, vor dem sie schon gestanden hatte. Ihr war zumute, als würden die knusprigen Brote und die geräucherten Schinken sie hereinwinken. Bei ihrem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ihr knurrte der Magen.
Nein, gleich kaufe ich Obst, Gemüse und Salat, sagte sie sich energisch und gab Gas.
Ein paar Meter weiter entdeckte sie das Schild, das sie suchte. ›Tonis Sportmoden‹, stand über dem Geschäft. Zwei riesige Schaufenster luden den Kunden ein. Dass sie direkt vor dem Eingang eine Parklücke fand, wertete sie als Zeichen, hier genau richtig zu sein.
Wie lange hatte sie sich nichts mehr gekauft? Ihr schwebte ein farbenfroher Badeanzug vor, einen schöneren als ihr altes dunkelblaues Schwimmmodell. Karibische Farben, Muster der Südsee, sommerlich, sprühend, lebensfroh. Ja, genau das wollte sie sich jetzt leisten.
*
So schwungvoll, dass es sie selbst überraschte, öffnete Nicole die Tür und sah sich erst einmal allein in dem Geschäft. Dann wurden Schritte laut. Eine dunkelhaarige, etwas mollige Frau mittleren Alters erschien hinter einem Vorhang. Ihr warmherziges, mütterliches Lächeln nahm sie auf den ersten Blick gefangen. Auch die braunen Augen der Verkäuferin lächelten, als diese auf sie zutrat.
»Grüß Gott, kann ich etwas für Sie tun?«
Nicole nannte ihren Wunsch.
»Ich glaube, ich weiß genau, was Sie suchen. Kommen Sie mal mit mir.«
Die Frau berührte ihren Ellbogen, zog sie zu einem Ständer und zeigte ihr exakt das Modell, dass sie im Geiste vor sich gesehen hatte.
»Das ist er!«, rief Nicole gleichermaßen erfreut wie begeistert aus.
Die ältere Dame lachte. Ihr Lachen klang wie das einer Frau, die mit sich und der Welt im Reinen war. Bewundernswert.
»Jetzt muss er nur noch passen«, meinte sie dann ernst. Ja, fast mit bekümmertem Blick.
»Ich weiß.« Nicole seufzte. »Das ist immer mein Problem.«
»Sie haben eine tolle Figur, aber ein paar Pfündchen mehr könnten Sie schon vertragen«, meinte die Verkäuferin mit herzlicher Offenheit. »Das mögen die Männer«, vertraute sie ihr augenzwinkernd an.
Die Schwarzwälder Männer bestimmt.
Wieder sah sie den Waldarbeiter namens Daniel vor sich. Groß, breit, ein Hüne, der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Männlich. Und mit so viel jungenhaftem Charme.
»Probieren Sie den Badeanzug an. Sollte er zu weit sein, kann ich Ihnen einen hervorragenden Schneidermeister im Ort empfehlen, der ihn enger machen kann.«
Das schöne Stück passte, was Nicole zunächst sprachlos machte. Dann freute sie sich. Sie hätte jubeln können. Endlich einmal hatte sie sich etwas gegönnt, was nicht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand.
»Fantastisch«, lautete das Lob der Verkäuferin. »Aber trotzdem …« Sie senkte in verschwörerischer Manier die Stimme und wiederholte: »Ein paar Pfündchen mehr könnten es schon sein.«
Nicole lächelte sie an. »Jetzt brauche ich noch Wanderschuhe, mit einem guten Fußbett.«
»Dafür rufe ich lieber meinen Sohn, der packt hinten gerade neue Ware aus. Er versteht mehr vom Wandern.«
Nun gut, dann sollte Toni mal kommen. Sie befand sich gerade im Kaufrausch, vielleicht würde Toni heute das Geschäft seines Lebens machen.
*
Tonis Mutter verschwand hinter dem Vorhang. Nicole hörte Stimmen, dann feste Schritte und da erschien Toni auch schon – nur dass der Mann nicht Toni, sondern Daniel hieß.
Ihr stockte der Atem, als ›ihr‹