Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal
Читать онлайн книгу.diesem einzigen Abend Geheimnis und Wehmut zugleich; selbst der Bratengeruch, der im Speisezimmer nebenan festlich sich verbreitet, hat etwas Geweihtes. Und nun verlöschen allmählich die auf den breitausladenden Zweigen niedergebrannten Lichter, der Raum füllt sich mit warmen Schatten. Da schlägt jemand, ein junger Oheim, am Klavier ein paar volle Akkorde an, oder die Schweizeruhr, ein Einsiedler, der den Glockenstrang zieht, klingt hell die Nachtstunde. Wenn dann alle Verwandten fortgegangen sind, steht man unschlüssig noch eine lange Weile vor den in ihrer Unberührtheit wie verzaubert harrenden Schätzen, bis man eine Puppe, einen Reiter, eine Peitsche aus dem Bann erlöst und in die gewohnte, heute so entfernte, seltsam einen erwartende Schlafstube hinüberträgt, eine fremde, neue Gestalt in die eigene Vergangenheit.
Aber einmal kommt der Weihnachtsabend, da der Knabe, der sich selbst unbemerkt entwachsen ist, mit verhaltenen Tränen, vorm Gutenachtkuß stockend im Dunkel hinter der Schwelle der Mutter die traurigen Worte sagt: »Mama, ich kann mich nicht mehr so freuen wie früher ...«
VI
Aus meiner frühesten Kindheit ist mir eine rote Ziegelmauer in Erinnerung, auf der spärliches langes Gras im Wind weht. Und melancholische Lieder meiner Mutter hör ich noch, die sie mir wohl zum Einschlafen gesungen hat.
Da droben aufm Bergl,
da weht ein kühler Wind,
da sitzt die Mutter Gottes
und wiegt ihr liebes Kind.
Sie wiegt es sanft und leise
mit ihrer schneeweißen Hand,
da bringen ihr die Engel
ein blaues Wiegenband –
Meine Mutter ist sehr jung gewesen, als sie mich so in den Schlaf sang. Auch daran hab ich, dünkt mir, eine zärtliche Erinnerung. Und wenn ich heute bei ihr sitze und gerührt ihr von vielen Sorgen und schwerem Kummer frühzeitig gebleichtes und nunmehr längst von feinen Falten gezeichnetes kleines Gesicht anschaue, seh ich hinter diesem immer so gütigen und liebevollen Gesicht, das vor Mut nicht müde werden mag, ein ganz junges, frisches, farbiges, mit hellen, blitzenden Augen. Dagegen hab ich keine Erinnerung an die frühe Berührung ihrer guten, emsigen Hände. Sie hatte, an Geschichten und Versen unerschöpflich – sie kehrten wohl wieder, aber die Lebhaftigkeit ihres Vortrags ließ sie unerschöpflich scheinen –, keinen Sinn für Musik, kein Gehör dafür. Kümmerlich war auch ihre den Kindern genügende Zeichengabe, obwohl man bei der Großmutter später staunend und stolz Bilder von ihrer Mädchenhand sich bestätigen konnte. Aber um so schöpferischer behandelte sie das gefügige Leben. Sie schuf uns, genial wie Gott, die Welt aus dem Nichts, das ihr dazu zur Verfügung stand, sie erlebte mit uns Kindern erst das Leben. Nie hat ein Mensch reicher, tiefer und zauberischer das kleine Leben erlebt. Sie war buchstäblich eine Lebenskünstlerin, eine Goldmarie. Von ihr ging das Licht aus, das alles Dunkel erhellte. Wo sie ging, da blühte dankbar die Welt. Sie hatte die Gnade, die erweckt. In ihrer Nähe wachte alles zu seiner ganzen Lebendigkeit auf, der Augenblick nahm sich zusammen und gab sich her. Und wenn sie gar von ihren Träumen erzählte, die sie, die wenig und nicht fernhin gereist war, alle Wunder der Palmenwälder und der blauen Meere schauen ließen, dann wußte man, daß ihre Patin die Phantasie gewesen war, die allmächtige Fee des wahrhaftigen Lebens.
VII
Alle Morgen, wenn die Kinder noch im Bette lagen, flog Frau Denk, die kleine Friseurin, herein. Da stand, im Winter von zwei Kerzen beleuchtet, denn es war noch früh, der leichte Spiegeltisch vor dem einzigen schmalen Fenster, und Mama ließ sich das Haar von den eiligen Fingern der gehetzten gelben Person aufstecken. Aber einen Teil der mühelosen Fertigkeit ersetzte sie selbst durch eigene Nachhilfe. Frau Denk schien uns Kindern alt. Wer schien uns denn jung? Ich glaube, Kinder haben kein Gefühl für Jugend. Doch seh ich Mama immer jung; sie kann mir nicht altern. Aber damals war sie bloß die Mama, und solche Dinge wie Jugend und Älterwerden hatten keine Macht über sie.
Alt waren viele. Aber es ist ein andres Gefühl darin, als es die Vorstellung alt begreift. Es ist: nicht zu uns gehörig, drüben. Mama war bei uns. Die andern, die nicht Kinder waren oder sozusagen in einem ungeprüften Begriff aufgingen, wie der Bäcker oder der Schornsteinfeger, waren drüben, jenseits der Grenze.
Herr Stieber, der Friseur, war so einer. Er war mir Würde. Stell ich ihn mir wieder her, so steht ein armseliges, überaus mageres, langes Männchen da, dem ein großer Bart, der nicht groß wirkte, und ein schwarzgerandeter Kneifer auf einer ängstlichen Nase Ausdruck geben. Mir war er Würde. Er herrschte. Das sah man. Denn die Gehilfen schnitten Haare ab und rasierten, er aber stand auf einem Podium am breiten Fenster hinter den Perückenköpfen und sah hinaus. Er wandte den Kopf, wenn die scheppernde Ladentüre ging, und sagte einen Gruß. Manchmal befliß er sich eines Gesprächs. Zu Hause hatte er eine kranke Frau, und seine erwachsenen Kinder bereiteten ihm Sorgen. Aber das überhörte man, wenn man es etwa vernahm.
Herr Navratil, der Schuster, hieß nicht Herr Navratil, denn er war nicht der Herr, sondern der Gehilfe. Aber man sagte ihm Herr Navratil und meinte das Geschäft. Fast noch herrlicher als das Haarschneiden, die kalte Schere überm Ohr und ihr Klirren, wenn sie die gewandten Luftschnitte tat, um nicht aus der Übung zu kommen, wollüstiger kitzlig war das Maßnehmen an dem auf den Strumpf entkleideten Fuß. Dann kniete Herr Navratil, das Geschäft, nieder, legte sorglich die Papierstreifen an, deren er immer wieder viele besaß, gelbe, blaue, weiße und gewürfelte, und knipste mit dem Fingernagel die Merke hinein. Aufatmend von süßer Hemmung erhob man sich nachher vom hölzernen Hockerl.
Manchmal am Samstag kam Tante Julie. Sie hatte ein breites Gesicht und sah wie ein alter Komiker aus. Ihr Humor war derb und unbedingt. Sie machte große, staunende Augen dazu und nach jedem Witz einen satten Mund wie ein Priester. Ihre Nase war wie die eines Schnupfers, und ihr Kleid – sie war arm – war wie das einer Nonne. In die Ewigkeit hat Tante Julie sicherlich ihr Mutz begleitet. Das war ein schwarzer Pudel, der nebst einem Igel – ich glaube, er hieß Martin – und einem mir heute unbestimmbaren Vogel ihre Gesellschaft bildete. Mutz verstand alles, wußte alles, konnte alles. Er hatte deshalb etwas Unheimliches. Fast schien das »du«, das ihm jedermann versetzte, seiner unwürdig.
VIII
Ich mochte neue Kleider nicht, wollte meine alten nicht hergeben. Man mußte mich zu neuen Kleidern überlisten oder dafür, daß ich sie annahm, belohnen. Eine Belohnung war der Besuch des Franzi. Er hatte Sommersprossen über das ganze gutmütig-derbe Gesicht und Haare von der Farbe dieser rotgelben Flecken. Seine Mutter war eine Köchin, die schon bei der Großmutter viele Jahre gedient hatte und seit vielen Jahren der Tante diente. Der Franzi war zu allerlei Dingen geschickt, die wunderbar schienen, weil man sie nicht konnte. Zum Beispiel verfertigte er aus Bestandteilen, die er aus so bewandten Bilderbogen ausschnitt, Häuschen, Blockhäuser. Es war so selig, ihm dabei zuzuschauen. Die Soldaten konnte man ja auch aufstellen. Nicht so überzeugt wie er; aber doch nicht gerade ungeschickt: man tat mit. Jene Dinge aber waren gnadenvolle Künste, wie etwa einen Finger in den Mund stecken und nun pfeifen oder auf den Händen stehen, wobei die Hosen von unten, was jetzt oben war, hinauffielen und man seltsam schaudernd gewisse grobe Unterwäsche sah, wie ja auch rote »Stützel« oder »Pulswärmer« etwas Arbeitermäßiges, Fremdes, freilich auch etwas Erwachsenes an sich hatten. Gleichaltrige wurden besser gemieden. Sie boten nichts, wollten nur immer etwas hören oder waren einfach unartig. Andere wieder waren sehr arm, dienstfertig, aber auch aus Verlegenheit zudringlich.
IX
Auf dem alten Ledersofa zwischen den beiden Kinderbetten, während die Nachmittagsdämmerung vor dem stärkeren Leuchten des Schnees auf dem Dach des kleinen Hinterhauses und dem im großen Kachelofen röter glühenden Kohlenfeuer verblaßte, erzählte die Mutter, an die wir uns schmiegten, Märchen. Von dem jungen Alexander, der die halbe Welt bezwang, indem er sie staunend in ihrer Seltsamkeit und Größe kennenlernte, der im Zorn seinen besten Freund erstach, dann aber, von Schmerz und noch tieferer Reue ergriffen, ein König, über der Leiche laut vor allen seinen Hofleuten weinte; wie er, der so schön und klug und mächtig war, daß ihn die weißbärtigen Priester in den uralten Tempeln an den heiligen Strömen als einen Gott begrüßten,