Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

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Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


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denn es war vor allem dennoch wirklich und wie die vielen, vielen Schachteln, die, eine immer kleiner als die andre, ineinander steckten: es steckten immer wieder kleinere Geschichten in dieser einen, die so groß war wie die Welt, wie der Himmel über den Häusern, wenn man sich am Fenster auf den Rücken legte und hinaufsah, gar nachts im Hochsommer, wenn der Himmel von lauter zitternden Sternen atmete. – Da gab es die Geschichte von dem weisen Manne, der auf alles verzichtete, was man sonst gern hat, gutes Essen und hübsche Kleider, auf das warme Bett sogar, und Sommer und Winter in einer leeren Tonne lag und nur, wenn die Sonne so recht wie auf ein Ährenfeld oder eine Landstraße herunterbrannte, sich langsam wie eine Schnecke herausschob und sich wärmte. Auch der junge König Alexander hatte von ihm gehört und kam, begleitet von einem seiner Feldherrn, den Weisen zu besuchen. Und er war so voll Bewunderung vor seiner großen Weisheit, daß er, der Herrscher über viele hunderttausend Krieger, wie er's gewohnt war, wenn ihm jemand zu Gefallen lebte, dem Alten einen Gnadenwunsch freigab. »Geh' mir ein wenig aus der Sonne«, das war alles, was Diogenes von dem Manne zu bitten wußte, der seine Heimat besiegt hatte und alle die unzähligen, an Schätzen und Geheimnissen reichen Völker noch unterjochen sollte, die fern über dem Meere Tausende von Jahren für seine Sichel herangereift waren ... Alexander war schon als Knabe so kühn und klug wie keiner. Und weil er mutig war, gelang ihm alles. Er konnte nicht einschlafen, weil er an die vielen Taten dachte, die er zu tun gewillt war. Und er weinte, daß ihm sein Vater Philipp vielleicht nichts mehr werde zu tun übriglassen. Unter seinem Kopfkissen hegte er die unsterblichen Gedichte des alten blinden Sängers Homer, und er beneidete den Achilles um das selige Los, daß ihn dieser gewaltige Dichter besungen hatte, Achilles, den Sohn der Meeresgöttin Thetis, Achilles, für den die Mutter vom Vater der Götter und der Menschen ewigen Ruhm erbeten hatte und der dafür so bald hat sterben müssen, er, der schönste, stärkste und edelste aller Achäer; so bald wie Achilles Alexander ...

      Einmal aber erzählte die Mutter das Märchen vom Kaiser Napoleon. Er saß in einem grauen Mantel mit einem kleinen Hut auf einem weißen Pferde. Der Blick seiner großen blauen Augen war so gewaltig, daß sich alle Könige bebend vor ihm beugten. Er war ein armer, blasser Artillerieoffizier gewesen und hatte einer alten Obstfrau, als er noch einsam und wortkarg auf der Kriegsschule fleißig lernte, Geld für Birnen schuldig bleiben müssen. Aber als Kaiser hat er ihr's dann zurückgezahlt. Seine Adler flogen ihm voraus über die Erde, und über ihm stand helleuchtend sein Stern. In hundert Schlachten hatte er gesiegt, war, der Korse, im befreiten Frankreich Erster Konsul geworden, hatte sich selbst zum Kaiser der Franzosen erhoben und, vom Papst in Paris gekrönt, die Kaisertochter aus dem Hause Habsburg geheiratet; sein Wille gebot allmächtig und grenzenlos, das Echo seines gewaltigen Namens ward im fernsten Osten vernommen, also daß fremde Völker Gesandte schickten, seiner Huld ihre Herrscher zu empfehlen. Aber ihn, dem kein Mensch und kein Heer gewachsen waren, hat Rußlands riesiger Winter bewältigt. Im Kreml, der Krönungsstadt der Zaren, stand der Einsame stumm am Fenster und blickte auf das brennende Moskau, vor dessen himmelanlodernden Flammen sein Stern verbleichte. Und in einem kleinen Schlitten floh der Kaiser einsam vor dem eisigen Umfangen des unüberwindlichen Rußland. Er wollte das Verderben seiner großen Armee nicht mit ansehen ... Die Mutter erzählte auch, daß sich endlich alle zusammengetan hätten gegen den großen Kaiser, den einzigen Kaiser, ihn, der, von eigenen Gnaden, gleichsam zum ersten und letzten Male diesen Namen verwirklicht hatte, und daß sie ihn endlich, als ihn seine Marschälle verraten hatten, fingen und auf die Insel Elba verbannten. Da stand er und schaute über den Ozean nach Frankreich hinüber. Bis er eines Tages an seinen Wächtern vorbei auf einem kleinen Schiff, seine Adler an Bord, nach Frankreich entrann. Und hundert Tage war er wieder Kaiser. Entsetzt hatte der dicke König und sein Hof sich vor dem herannahenden Sieger geflüchtet. Aber sein Stern war verblichen, bei Waterloo ward er geschlagen und dankte, entmutigt von Schwachen, in seinem ersten Schwanken bedrängt, dem Thron ab. Und nun setzten sie ihn, vor Angst, er könnte doch noch wiederkommen, weit hinaus ins Weltmeer, auf eine Felseninsel, St. Helena, wo er traurig und langsam starb ...

       X

       Der feuchte Geruch von Glashäusern erinnert mich an die Kindheit. Es war bei einem Oheim, als ich zum erstenmal in ein Glashaus treten durfte. Die roten Ziegelstufen, über die man hinunterstieg, die immer schwitzenden Fensterscheiben, die großen Gießkannen, zumal ihr mächtiger durchlochter Gießmund, die moderne Schöpftonne, alles hatte etwas Geheimnishaftes. Die eng aneinandergerückten unübersichtlichen Blumentöpfe schwiegen wie eine Versammlung von Abgeschiedenen. Blumen in Glashäusern ist das Leben verboten. Sie sind wie edle Gefangene. Ein Schmetterling flatterte gegen die Glasscheiben und erfüllte den dumpfen stillen Raum mit seinem ängstlichen Geräusch ...

      Efeu ist traurig, wilder Wein bloß schwermütig, Winden sind heiter. Aber dem Kinde waren im Garten auch die vereinzelten Rosen rührend und Früchte im Laub ein wenig unheimlich. Wenn gar der Wind die Bäume wütend beugte, bangte es, verlangte hinweg. Unter Gras, das auf einer Gartenmauer wucherte und herabhing, stand es sehnsüchtig. Schmerzlich wie der erste Gedanke der Ewigkeit aber war die Sonnenuhr.

       XI

       Alte Standbilder von Heiligen stehen auf manchen Frühlings- und Herbstwegen meiner Kindheit. Unten am faltigen Steingewand glimmt ein Laternchen, und seltsam spielen die flackernden Schatten. Auch ein Leidensgang

       des Heilands mit den bezifferten schmerzhaften Rasten dämmert mit manchem melancholischen Sonntagabend in die Unendlichkeit hinüber, die wir Nacht nennen.

      Ohne sich noch zu ahnen, empfindet sich des Kindes gleichsam im dumpfen Dunkel des tiefsten fernsten Innern pochende Seele, und solche Schauer bleiben geheimnisvolle Erinnerungen noch des späten Manntums.

      Überhaupt dieses Sichselbstfühlen, Mitsichzusammenkommen, wie Wellen werden in einem ewigen Gleiten ... Habt ihr schon von kleinen Brücken hinabgesehen in grundklare, raschfließende Bäche? Liegt alles Dasein nur im Bemerktwerden, oder ist es auch selbstbewußtes Fürsichsein? Kann es ein völliges Allein geben? Ist nicht jedes durch ein andres bedingt? Ein Bach durch sein Bett; ein Mensch durch das, was nicht er selbst ist?

      Fragen ohne Antwort. Aber Märchen sind Antworten ohne Fragen. Und eines Kindes selten nur durch solche Wellen gestörtes Sein ist reines Märchen. Nicht den andern, die es sagen, sondern sich selbst, freilich ohne Ahnung.

      Meine Kindheit ist sanftes Dunkel, öffnet die Augen in die Nacht hinaus; sie öffnet ihre tausend Augen in euch hinein, bis ihr, überwunden, eure wieder schließet.

       XII

       Ich bin nach vielen Jahren durch die alte Stadt, eigentlich bloß an ihr entlang, gegangen, wo ich geboren bin und wo ich mehr als zwanzig Jahre gelebt habe. Überall sind mir Schatten von Menschen begegnet, an die ich zwanzig Jahre nicht gedacht hatte. Und ich habe wieder einmal die traurige Wahrheit mit bestätigen müssen, daß nur die Erinnerung, daß überhaupt bloß der Gedanke wirklich ist. Denn diese häßliche und gleichgültige Stadt hat außer den Erinnerungen, die ich ihr schenke, mit denen ich ihre gemeinen Züge mir melancholisch verschöne, wahrhaftig nichts herzugeben, was irgendwie erfreulich und von Dauer wäre: Gaslichtständer und schlechte Bauten gibt es überall, wo Menschen die Natur zerstört haben. Was hatte das Kind aus dieser engen Gasse, jenem düstern Torbogen geschaffen! Selbst das nach einer öden Schablone erbaute Theater hat ihm vom Geheimnis umwoben gedünkt.

      Von den Fenstern der neuen Wohnung Mamas, in ihrem auch schon recht alten Hause, hab ich über kahle Wipfel und durch das schwarze Geäst der winterlichen Bäume hinüber- und hinaufgeschaut in einen sehr traurigen Nachmittagshimmel und mich ganz von ihm aufnehmen lassen. Der Himmel über Bergen muß zur Ehrfurcht stimmen; der Himmel über Häusern macht bloß traurig. Aber da sagte meine Kindheit, in meinem blonden Neffen verkörpert, freudig erregt: Und schau nur, Onkel Hans, hier hab ich noch einen Arm. Der Arm gehört natürlich einem Beleuchtungskörper und ist sehr praktisch. Kerzen sind mir lieber. Aber das verstehen die Knaben nicht mehr, die heute zehn Jahre alt sind. Sie finden, das elektrische Licht sei doch schöner. Vielleicht finden spätere, daß ein Automobil schöner sei als ein Pferd.

       XIII

       Heute, Sonntag, vor achtzig Jahren ist meine Großmutter zur Welt gekommen.


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