Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

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Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


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gewesen. Ist es möglich, daß Zusammenhang nur gedacht ist? Freilich fließt ihr Blut in den Kleinen, aber was für Blut fließt sonst noch in ihnen! Ihr Bild, ein gütiges Antlitz voll milder Trauer, erweckt ihnen keine Erinnerung, und die Geschichte ihrer Ahnen ist ihnen bloß ein Märchen. Aber kann Liebe sterben? Und ist nicht mehr als Blut, mehr als Gedanke, ist nicht die Seele wirklich und wahrhaftig gegenwärtig? Wenn das Bewußtsein eines Menschen mit seinem Leibe stirbt, lebt es nicht in anderer Verbindung wieder auf, und kann es eine nähere, verwandtere geben als die mit seinem eigenen Blute? Manchmal seh ich in den Kinderzügen der kleinen Mully Großmutters Gesicht auftauchen und aus den Augen des kleinen Ockl ihre Augen blicken. Denn Augen sind nicht jung oder alt, Augen sind unsterblich, weil sie die Seele spiegeln.

      Hört mich, spielende Kinder, von eurer Urgroßmutter erzählen.

      Sie war sehr einsam und hat nie nach Menschen verlangt. Hat wenig von sich gesprochen, überhaupt nicht

       viel nach außen gelebt; aber ihre Gegenwart war sehr stark, und die stille Wirkung ihrer uneigenützigen Zuneigung war unendlich friedevoll. Doch das versteht ihr nicht, jauchzende Fremdlinge des Lebens, spielende Wach-Träumer, selige Verurteilte: ach, verurteilt seid ihr ja dazu, wie wir zu werden, das, was ihr bewundernd groß nennt und was ich klein heiße, was ihr euch reich vorstellt und was ich als arm bemitleide und verachte, Menschen.

       XIV

       Einmal sind in unser Speisezimmer neue Geräte gekommen. Was aus den alten geworden war, hab ich damals nicht gefragt, und heute, nach dreißig Jahren, ist es mir plötzlich merkwürdig. Denn Geräte, die einen Tag und Nacht umstehen, sind nicht gleichgültig. Sie nehmen von unserm Wesen an, und man soll ihre Treue nicht mit dem ärgsten Undank, der Gleichgültigkeit, belohnen. Heute kommen die Künstler der Raumgestaltung und schaffen einem die ständige Stimmung. So weit sind sie noch nicht gelangt, daß sie einem eine jeweilige Stimmung bereiten könnten, mischen wie der Barkeeper, im Abonnement sozusagen. Es gibt Kinderuhren, armseliges Spielzeug, dessen beide Zeiger, immer im selben Winkel zueinander verbleibend, bewegt werden können. Das Machwerk täuscht selbständige Bewegung vor. Künstler der Raumgestaltung verzichten noch darauf, Bewegung vorzutäuschen. Sie erneuern lieber von Zeit zu Zeit die ganze Umgebung. Aber Geräte, die wir nicht mit dem Raum vom Künstler bezogen haben, lebendige Geräte verändern sich unmerklich mit uns.

      Genau so, wie sich Menschen unmerklich mit uns ändern. Ist es denn nicht bloß eine Einbildung, daß Zeit verstreiche und wir älter werden? Sind wir nicht immer dieselben, wenn wir die Zeit nicht bemerken? Ach, aber es ist eine Täuschung, der wir uns hingeben, wenn wir uns von der Zeit befreit haben. Wir sind ja doch älter geworden und haben es uns vor allem daran traurig zu bestätigen, daß uns so vieles verläßt, was wir nicht gern hergeben, Leichtsinn und Freude, Menschen und Tiere, Bäume sogar und Geräte ...

      Die Sonne ist schon stärker: wir nähern uns wieder dem Frühling. Wieder stehen Hyazinthen auf allen Tischen, und die Sperlinge sonnen sich schon über den starren Weinranken an der Südseite des Hauses unter den Fenstern. Und die Luft hat einen Geschmack von einer immer näherkommenden Ferne. Sie schmeckt nach Sehnsucht, die Erfüllung hofft, kräftiger Sehnsucht, die ihr Ziel herbeizieht. Kinderfrühling, ich erinnere mich deiner als im Sonnenstrahl tanzender Myriaden Stäubchen, als leis rieselnd auftauender, leicht vereister Radrinnen, als wundervoll weich anzuschauender Palmkätzchen und kleiner grüner Knospen an zarten Zweigen gegen einen reinen, wirklich himmelblauen Himmel.

       XV

       Ich lese meinen Kindern täglich Märchen vor und kann sie sehr deutlich und doch so kindlich lesen, daß sie sie verstehen und ihnen doch ihr Duft zu Kopf steigt. Sie schlafen dann oft unruhig, träumen davon. Aber das, was ich selbst bei diesen alten Märchen fühle, die aus Hinein-zurück und Dran-herum gemischten Empfindungen von plötzlich gebannter Vergangenheitsgegenwart und das Nachkosten mutmaßlicher Eindrücke, das Streicheln sonst flüchtigster, ungreifbarer, ja unberührbarer Zusammenhänge – etwa das abgegriffene Gelb eines nicht mehr vorhandenen, nicht mehr auftreibbaren Buches, darin zum erstenmal Falada war, oder die in einem Buche wirklich noch immer lebende Abbildung voll von all den süßen Schauern ihrer damaligen Wirksamkeit – das bleibt unaussprechlich, ewig hinter meinen Lippen verschlossen, und kein noch so tiefer Blick in die horchenden Augen der unbefangen und gern alles von einem Erfahrenden ersetzt diese allerheimlichste Mitteilung des mit niemand, niemand gemeinsam so Besessenen. Zusammenschweigen kann man nur mit Menschen, die zusammen erlebt haben, man kann sich als Mann in seine Mutter hineinschweigen, nicht in seine Kinder. Kinder leben ja von einem weg.

       XVI

       Immer wieder packt mich, mich anfallend, der Einfall, daß es nur die Übergänge, die Zwischenstufen sind, die leiden machen, daß hingegen die Gegensätze, die Umwandlungen, das Verkehren, nicht weh tun. Aus dem

       Automobil aussteigen und im Sonnenbrand barhäuptig von nun an einen beladenen Karren ziehen, das ist Saulus-Paulus-Wende, ist das begnadete Schicksal Buddhas, ist unmöglich, aber leicht. Schwer sind nur die Mängel, die Unvollkommenheiten, etwa nicht im Automobil, sondern im Einspänner zu fahren. Zerlumpt sein und auf einer Bank im Volksgarten schlafen, zwischen dem und dem, im Viererzug in die Schloßeinfahrt einzubiegen, liegt bloß eine tiefe Kluft, und der befreite Gedanke überspringt sie, der gereinigte Wille macht sie zunichte (man kann hier oder drüben bleiben, bewußtermaßen, es ist gleichviel). Aber um acht Uhr früh, den Zylinder auf dem Kopf, in Gamaschen und Pelz ins Amt zu gehen, ist erbärmlich, zumal wenn man an einem ragenden weißen Herrenhause vorüber muß, das, mitten in der Stadt, mit einem dichten Park gegen die gemeine Gasse sich abschließt und wo acht Reitknechte täglich edle Pferde bewegen.

      Es gibt einen einzigen Gegensatz im Leben, der wirklich durch keinen Gedanken, keinen noch so starken Willen zu vernichten ist: den zwischen Kindsein und Nicht-mehr-Kind-Sein. Was helfen mir alle Erinnerungen: ich bin nicht mehr Kind. Ich bin nicht mehr das Kind, das ich gewesen bin, ich bin nicht mehr ich. Denn bin das ich, der ich da hinüberträume, ins verlorene Paradies? Nein, das ist ein völlig anderer, ein Vertriebener, Verstoßener, Enterbter. Ich habe vom Baum der Erkenntnis genossen und bin nach außen sehend geworden, also nach innen erblindet.

       XVII

       Mein kleiner Bub hat heut, als ich ihn an mich herangezogen hatte in den tiefen Lehnstuhl, zärtlich und dankbar für meine Liebe seinen blassen blonden Kopf an meine Brust gelegt und sich still-froh die Stirne leise von mir küssen lassen. Gegenüber im hohen weißen Kamin glühte durch die messinggestäbte Glastür das Feuer tiefer, da die Winterdämmerung schon hereingebrochen war und die Lampe über uns noch nicht brannte; in der Verglasung des großen Bildes über dem einen der beiden Kaminsitze spiegelte sich undeutlich, schattenhaft allerlei, leuchteten schwache Widerscheine vom Fenster her und vom Kamin empor: es war ein trunkener, gesättigter Augenblick, wie ich sie bei völligem Ausspannen und Nachlassen aller Unruhegefühle im Innern und so frei von allen äußeren Ablenkungen – und seien es die durch die tiefsten Bücher bewirkten – selten besitze und noch seltener ganz empfinde. Aber noch schöner, weil unbefangener und gegenwärtiger, muß das freilich nicht recht bewußte Gefühl bei meinem kleinen Buben gewesen sein; denn deutlich, wenn auch flüchtig, sind mir einige wenige solcher unverlierbaren Ruhepunkte als freilich nicht umrissene Erinnerungen manchmal gegenwärtig. Was ihr Glück, ihre vom Erwachsenen, der zurückdenkt und vorahnt, niemals so zu empfindende Wonne ausmacht, ist eben das Zeitlose, das Unbeirrte, dieses So-muß-es-sein- oder Kann-es-denn-anders-sein-Gefühl des Kindes – dem vielleicht binnen kurzem das ärgste droht. Der Erwachsene, dem solche Momente beschieden sind, ist bis zu einem gewissen Grade ja reich – und niemand kann dafür dankbarer sein als ich –, reich vor allem schon darum, weil er es eben dahin gebracht hat, nicht nur sich erinnern zu können, sondern genießen zu dürfen. Aber er weiß doch, woran er ist und wie das alles vergeht; gerade die süße Erinnerung an das Vergangene, an die eigenen seligen Kindheitsruhepunkte ist ihm eine traurige Mahnung an das Unhaltbare, Unfaßbare solchen Stillestehens der Zeit ... Das schönste ist doch die Erinnerung, denn sie hat man. Und wer sagt einem, daß andere außer eben in der Erinnerung solche Augenblicke überhaupt auszugenießen imstande sind? Wer sagt mir, daß es mein Kind vermag?

      


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