Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

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Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


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zu haben? – von den mörderischen Mißhandlungen eines vierjährigen Kindes, und das Herz krampft sich mir zusammen vor Weh, Grauen, Haß und Ohnmacht. Ich könnte den Unmenschen, der das arme Wesen gequält und verletzt hat, kalten, nein, siedendheißen Blutes niederschlagen, erdrosseln, zerreißen. Gibt es denn auf der Welt etwas Rührenderes als ein Kind zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr? Es ist nicht mehr der bloß nach Nahrung zappelnde, seelisch stumpfe, sinnendumpfe Wurm der ersten Zeit und noch nicht der dem Verhängnis der Schule entgegengetriebene himmelabtrünnige, kraus wuchernde Verstand von später; es ist das Kind im seligen Zustand der Gnade, ganz abhängig und doch ganz unabhängig, wahr, unschuldig, ohne Bewußtsein von der Not des Lebens, mit einem Stecken und einem Apfel ebenso zufrieden wie mit einem kostbar eingerichteten Pferdestall und einer Tüte Konfekt, ebenso stolz auf ein paar neue Schühlein wie auf ein Säbelchen, glücklich erstaunt über den Ruf eines Vogels, den Anblick des fallenden Schnees, des Feuers im Ofen, innig, ohne Arg mit allen Geschöpfen, voll Vertrauen. Mit dem Erwachsenen mag man mitunter mitleidlos sein, grausam sogar: denn der Erwachsene ist ja meist ein schändlicher Schacher und schmählicher Schwindler, wenigstens ein bewußter Schauspieler seiner selbst; aber wer ein kleines Kind martert oder bloß ärgert, dem kann nicht vergeben werden, der, nicht der Brudermörder, ist verflucht. Ein Bruder, das ist das Irdische neben mir, das zufällige Zusammen, ein Kind, jedes kleine Kind aber ist das Überirdische unter mir.

       XIX

       Ich habe gestern einen Grotesk-Putten gekauft, das Erzeugnis einer Tiroler Kunsthandwerkerschule – 240 Stunden hat, heißt es unten auf dem Fuß, ein Alois ... daran vor elf Jahren gearbeitet. Monatelang, Jahre hindurch hat die Gestalt, die treffliche Nachbildung einer italienischen Palast-Barockfigur, keinen Liebhaber gefunden, hat sie sich, zuletzt schon scheu, verschüchtert, von Scham verzehrt, ausstellen, ausbieten lassen müssen; seit gestern gehört sie mir, uns, ist ein alter Freund geworden, heißt »Peter Suttit, frech und dick« und lebt auf.

      So sind im Laufe der Jahre viele einzelne Dinge zu mir gekommen, Möbel, Bilder, Gefäße, uralte und neue, und sind mein geworden, haben ein Heim und eine Heimat gefunden und sich selbst, vom Trödler, von Versteigerungen, aus Erbschaft, geschenkweise.

      Über der Tür, die von der Galerie ins Speisezimmer führt, hängt ein altes Ölbild. Es stellt einen General im

       Maskenanzug vor, ist unbeholfen und unbedeutend, hat aber, mit starken und glücklichen Farben, ein seltsames Eigenleben und fühlt sich, das seh ich, bei mir wohl, weil es mit hundert andern Dingen sogleich sichern Zusammenhang gewonnen hat. Wir, ich und es, können uns gar nicht denken, daß es jemals anderswo hätte hängen können.

      Sonderbar mutet einen das Schicksal vereinzelter Überbleibsel aus dem zerstreuten Hausrat verstorbener Vorfahren an. Sie kehren zu Enkeln zurück und verschweigen ihre Geschichte. Da ist der Rahmen neu vergoldet worden, der ein steif und sorgfältig gemaltes Blumenstück umschließt. Die tote Tante hat es als ein strebsames Mädchen vor einem halben Jahrhundert gemalt. Einst war es ein Geschenk gewesen, zu einem Festtag wohl den Eltern überreicht, dann hat es durch Erbgang die Besitzer gewechselt. Heut hängt es als ein frischer Wandschmuck da, altmodisch-heimlich, voll von unweckbar schlafenden Erinnerungen. Meine kleinen Kinder haben die Tante nicht gekannt. Über Georg, den Ritter Ork, hat sie sich noch gebeugt, als er freundlich mit den Händchen zutappend auf dem Wickeltische lag; dem Mädchen, das sie uns für sich, die Kinderlose, oft gewünscht hatte und das sie nicht mehr hat erleben sollen, hat sie wohl von ihrer Seele geben müssen nach dem unerforschlichen Gesetz der Übergänge ...

      Im Glasschrank stehen alte Prunkstücke aus rotem und grünem geschliffenen Glas, mit zierlichem Bildwerk und Gedächtnissprüchen, Hochzeits- und Taufangebinde, die Besucher nun, weist man sie einmal her, als Gegenstände bloß bewundern.

      Familienschmuck trägt ja die jeweilige Frau des ungekannte Vorgänger fortsetzenden Hauses, nicht so benutzbares Erbe aber muß sich unter Fremden müßig zur Schau stellen lassen, und einmal mag der Tag kommen, da es lieblosen Händen höchstens Wert und nichts mehr von der Würde des Gewohnten hat.

      Alte Uhren pendeln neue Tage durch, und der helle Klang ihres Schlages ruft Lebenden die flüchtende Zeit aus, wie er sie vielen Toten treu verkündet hatte. Die große vergoldete Wanduhr, die meinen Ältesten, seinem

       Bette gegenüber, früh zur Schule mahnt, sie hat, ihrem Bett gegenüber, die schweren Sterbenswochen seiner Großtante begleitet und sich dann einmal herüberbringen lassen müssen in eine fremde Stadt, in ein fremdes Haus und dennoch, wenigstens will's mir so scheinen, heim.

       XX

       Fünfundzwanzig Jahre soll die Marlitt tot sein. Die Mitteilung weckt mir Erinnerungen, die älter sind.

      Ich sehe mich vor den dicken Bänden der weiland »Gartenlaube« sitzen und »Goldelse« und »Das Geheimnis der alten Mamsell« lesen. Es war ein schöner Garten, der sogar eine wirkliche Gartenlaube besaß. Er ist erfüllt von Vergangenheit. Obwohl er, etwas verändert freilich, noch vorhanden ist, kann ich ihn mit Meister Anton und seinem Meister Wilhelm Raabe nur als einen versunkenen betrachten. Auf seinem Grunde liegt die Kindheit. Ich erlebe ihn manchmal in wundervollen melancholischen Wachträumen, die zwar nicht länger als Minuten dauern, aber Ewigkeiten einschließen. Ist nicht die Kindheit überhaupt Ewigkeit, ohne Anfang und Ende, nur sich selbst gleich, ohne Zusammenhang mit dem sogenannten Leben, das draußen liegt und sich plötzlich wie ein Ring, der unsichtbar herangewachsen ist, um sie schließt? Denn sie endigt nicht: sie versinkt. Der Ring hat nichts erfaßt, er breitet sich aus in die unendliche Öde, an deren Rändern wieder die Ewigkeit wogt.

      Die »Gartenlaube« gehört noch zur Kindheit. Man hatte ja schon lesen können, war sogar reif geworden im Sinne des bekannten Untertitels der verschiedenen Bücher, die nicht mehr Märchen sind, sondern nur sonst unwahrscheinlich, aber das macht nichts: Kind ist man, solange man nicht außer sich gelangt ist. Das ist das Wesen des Erwachsenen, daß er außer sich gelangt. Viel, viel später erst findet er – und nicht auf lange, aber wohl immer öfter – heim, zu sich. Und dann ist alles so merkwürdig, unbekannt und bekannt zugleich. Wie wenn man in einer gleichgültigen Gasse, die man seit langer Zeit immer nur in einer Richtung, etwa in einer sie kreuzenden andern Gasse, durchschritten hat,

       plötzlich merkt – man muß dazu nicht einmal stehengeblieben sein –, daß dieselbe Gasse, von einem andern Standpunkt aus betrachtet, sogar eine sehr liebe alte Gasse ist, mit allerlei Erinnerungen an bestimmte Stellen: dort vielleicht sogar eine Wohnung, in der man als Student gewohnt hat ... Es kommt nur auf die Richtung an, in der man lebt. Und überhaupt auf das Hinleben und plötzliche Stehenbleiben und Sichzurechtfinden.

      Also die »Gartenlaube« gehört zu meiner Kindheit, mit »Goldelse« und der »Alten Mamsell«. Ich weiß, daß eines Tages meine Mutter, der ich unter der Hand alles Lesbare weggelesen hatte, zu ihrer Mutter sagte: »Nicht wahr, Mutter, ich glaube, jetzt könnte er schon die Marlitt lesen?« Und da ich es konnte, so tat ich's denn auch. Es war sicherlich ein kleines Ereignis. Nicht so wie »Robinson« oder »Lederstrumpf«, nicht wie »Tausendundeine Nacht« und »Gullivers Reisen«, aber doch fast so wie das »Wirtshaus im Spessart« oder Hebels »Schatzkästlein« und jedenfalls viel mehr als Franz Schmidt oder Gustav Nieritz oder – nein: die gelb kartonierten Büchlein von Franz Hoffmann waren doch noch mehr, zumal Peter Simpel oder der arme kleine Dauphin von Frankreich und manche andere mit besonders unheimlichen Stahlstichen – Gott, wie unheimlich sind diese Stahlstiche gewesen und so unerschöpflich, die Hauptszene immer von einigen kleineren Auftritten eingerahmt!

      Ich habe also »Goldelse« gelesen, wobei es zu den Seltsamkeiten gehörte, daß man es in einem dicken Buche las, das die Großen aus Heften hatten binden lassen und worin so manche gelehrte Sache stand, die man, eingeführt in die Technik des großen Lesens, überschlug, um bei einer Fortsetzung sozusagen das Buch stets von neuem zu beginnen. Und die Teilnahme der andern, der Frauen zumal, an diesen Lesefortschritten! »Bist du schon da, wo ...?«

      Ich habe keine Ahnung mehr davon, was die Marlitt eigentlich dargestellt hat, aber ich habe eine Erinnerung an den Eindruck des Lesens dieser angenehm langen Geschichten; freilich ist mir dabei die Marlitt gleichgültig und nur die Tatsache der »Gartenlaube« merkwürdig.


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